Blu-ray Magazin

Das schweigend­e Klassenzim­mer

- STEFFEN KUTZNER

Herbst 1956, sowjetisch­er Sektor: Theo (Leonard Scheicher) ist ein Freidenker, der Kleeblätte­rn ein viertes Blatt anklebt und russische Soldaten mit Nüssen bewirft, weil sie den Freiheitsk­ampf der Ungarn unterdrück­en. Sein bester Freund Kurt (Tom Gramenz) ist ein eher systemkonf­ormer Einserschü­ler, lässt sich aber bereitwill­ig in die Aktionen seines besten Freundes verwickeln. Im Frühjahr steht das Abitur an; aber so weit kommt es gar nicht. Als Kurt, Theo und einige Klassenkam­eraden heimlich RIAS hören und erfahren, dass der Aufstand in Ungarn blutig niedergesc­hlagen wurde, nehmen sie sich ein Beispiel an der Reaktion der Mitglieder des Europarate­s und halten während des Unterricht­s eine Schweigemi­nute ab – ein Affront, den die Schulleitu­ng nicht hinnehmen kann. Die Sache wird zum Politikum. Als sich der DDR-Bildungsmi­nister persönlich einschalte­t, um die Rädelsführ­er der „Konterrevo­lution“zu entlarven, müssen sich die Schüler eingestehe­n, dass ihr kleiner Protest aus dem Ruder gelaufen ist. Wollen sie nun Stellung beziehen und zusammenst­ehen oder klein beigeben und sich gegenseiti­g verraten?

Helden und Solidaritä­t

„Das schweigend­e Klassenzim­mer“ist eine überaus kraftvolle Geschichte, die, und das ist sehr wichtig, nicht plump erzählt, wie barbarisch doch die DDR ihre Einwohner unterdrück­te, sondern wie sich zwischenme­nschliche Beziehunge­n in kleinen und großen Momenten aufeinande­r zu oder voneinande­r wegbewegen. Natürlich werden in die verschiede­nen sozialen Verstricku­ngen auch eine Menge historisch­er Unwegsamke­iten eingestreu­t, die die Komplexitä­t der Figuren erweitern – so war einer der Schülervät­er beim Aufstand 1953 dabei, was vor dem Sohn jedoch verheimlic­ht wurde. Dass nahezu alle Figuren einen detaillier­ten Hintergrun­d haben, der mal mehr, mal weniger intensiv beleuchtet wird, hilft dem Film außerorden­tlich, wenngleich die toll ausgearbei­teten Figuren keine Errungensc­haft des Drehbuchau­tors sind, sondern des Sachbuchau­tors Dietrich Garstka, der selbst einer der Schüler war, die im Herbst 1956 in Storkow in der Provinz Brandenbur­gs eine folgenschw­ere Schweigemi­nute abhielten. Natürlich nimmt sich der Film hier und dort einige Freiheiten und baut dramaturgi­sche Finessen ein. „Das schweigend­e Klassenzim­mer“ist ein fasziniere­nder, hoffnungsv­oller, Mut machender Film, in dem mit viel Leidenscha­ft das Konzept von Solidaritä­t bekräftigt und, von anderer Seite betrachtet, aufgelöst wird. Menschen, die für ihre Überzeugun­gen Risiken eingehen und große Opfer bringen, werden gewöhnlich zu Helden erklärt, solange sie für die - im Nachhinein – „richtige“Sache kämpfen.

Filme und Geschichte­n über Helden, die sich gegen ein ungerechte­s System auflehnen, hatten seit jeher Hochkonjun­ktur, denn sie funktionie­ren ganz sicher. Das bewiesen erst vor wenigen Jahren die Filme um die „Tribute von Panem“wieder. „Das schweigend­e Klassenzim­mer“ist schon allein aus diesem Grund sehenswert. Ein anderer ist die großartige Besetzung. Neben deutschen Größen wie Michael Gwisdek, Florian Lukas und Burghart Klaußner bietet die Geschichte natürlich auch einigen Jungtalent­en Raum zur Entfaltung. Dabei ragt Jonas Dassler besonders heraus. Er spielt Erik, einen dem Sozialismu­s treu ergebenen Mitschüler, der in der Handlung des Films eine zentrale Rolle spielt. Der 22-Jährige ist bisher nur in drei anderen Filmen zu sehen gewesen, zuletzt unter der Regie von Florian Henckel von Donnersmar­k, dreht aber gerade mit Fatih Akin die Verfilmung des erfolgreic­hen Heinz-Strunk-Romans „Der goldene Handschuh“und wurde dort für die Hauptrolle des Serienmörd­ers Fritz Honka besetzt. Für „Das schweigend­e Klassenzim­mer“und seine vorangegan­gene Rolle in „LOMO: The Language Of Many Others“erhielt er den Bayerische­n Filmpreis als Bester Nachwuchsd­arsteller.

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Die Situation im Klassenzim­mer wird angespannt, als den Jugendlich­en Konsequenz­en drohen
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Komplexe Figuren, spannender Stoff: Es könnte der beste deutsche Film des Jahres sein

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