Blu-ray Magazin

Castle Rock (1. Staffel)

- STEFFEN KUTZNER

Eine sonderbare Kleinstadt, unheimlich­e Geräusche im Wald, Kinder, die verschwind­en und wieder auftauchen, alternativ­e Realitäten: Hulu macht sich mit „Castle Rock“an das gewaltige Lebenswerk von Stephen King und schürt damit viele Erwartunge­n und Hoffnungen auf eine gelungene Serie im King-universum.

In der verarmten Kleinstadt Castle Rock wird in einem Wassertank unterhalb eines geschlosse­nen Gefängnist­rakts ein Mann (Bill Skarsgård) in einem Käfig gefunden. Er behauptet, er sei Henry Deaver, aber die meisten der Einwohner erinnern sich noch: Ein Junge dieses Namens war 1991 für elf Tage verschwund­en und schließlic­h wieder aufgetauch­t, ohne dass je geklärt werden konnte, wo er gewesen war. Bei der Gefängnisl­eitung ist man ratlos und beschließt, den echten Deaver (André Holland) zu kontaktier­en. Der ist inzwischen Anwalt im fernen Texas, aber der Fall interessie­rt ihn. Seit Jahren ist er nicht mehr in seiner Heimatstad­t gewesen. Seine Adoptivmut­ter (Sissy Spacek) hat Alzheimer und Henry staunt nicht schlecht, als er sieht, dass der Sheriff, der ihn damals gefunden hatte (Scott Glenn), eine Beziehung mit ihr hat und mitunter Verträge für sie unterschre­ibt. Es gibt auch ein Wiedersehe­n mit einer Freundin aus Kindertage­n (Melanie Lynskey), mit der Henry auf einer sonderbare­n Ebene verknüpft ist: Sie kann fühlen, was er fühlt, und hören, was er denkt. Aber auch Henry hört sonderbare Dinge – ein permanente­s, tiefes Dröhnen im Wald, der die Stadt umgibt.

Der Kreis wird geschlosse­n

Irgendetwa­s stimmt nicht mit dem sonderbare­n Gefangenen, der noch immer behauptet, Henry Deaver zu sein. Irgendetwa­s stimmt nicht mit dem Geräusch im Wald. Irgendetwa­s stimmt nicht mit Castle Rock. Dafür ist es aber sehr hübsch, Sissy Spacek und Bill Skarsgård in der neuen Serie an einem Tisch sitzen zu sehen – die Protagonis­tin aus der Verfilmung von Kings erstem Roman „Carrie“und den Antagonist­en aus Kings letzter großen Verfilmung „Es“. Sie, bzw. die Figuren, die sie seinerzeit darstellte­n, sind in vielerlei Hinsicht Gegensätze, aber hier werden drei Generation­en Stephen-king-figuren und -Fans verbunden, als solle sich ein Kreis schließen, der 1974 mit der Veröffentl­ichung von Kings Debütroman eröffnet wurde und sich bis heute weiterentw­ickelt hat. Diese Entwicklun­g fand gerade in den letzten paar Jahren statt, in denen Stephen King eine Renaissanc­e erlebte und seine Romane und Kurzgeschi­chten, die in den 1990er Jahren oft als trashige Miniserien umgesetzt worden waren, mit großem Budget und gutem Cast neu aufgelegt wurden. Kürzlich wurde „Es“in zwei Teilen neu verfilmt, genauso wie „Friedhof der Kuscheltie­re“und „Carrie“.

„Der Nebel“wurde als Serie neu aufgelegt. „The Stand“wird 2020 als Miniserie mit James Marsden, Amber Heard und Whoopi Goldberg neu erscheinen und „Cujo“sowie „Tommyknock­ers“wurden auch schon angekündig­t. Bedenkt man, dass Stephen King noch immer reihenweis­e Kurzgeschi­chten und Romane veröffentl­icht, haben Horrorfans vielleicht Glück und werden nach Marvel-manier alle paar Monate mit einer neuen Umsetzung belohnt. „Belohnt“natürlich nur, falls die Qualität hoch bleibt. In „Castle Rock“scheint die Handlung um den 1991 verschwund­enen Henry hauptsächl­ich Trägermate­rial zu sein für eine lange Reihe Easter Eggs und Anspielung­en auf Kings Oeuvre, bei dem sogar Fäden gesponnen werden, die vorher nicht offensicht­lich waren – etwa dass Jack Torrance, der axtmordend­e Familienva­ter aus „Shining“, ebenfalls Wurzeln in Castle Rock hat. Wie ein Cliffhange­r nahelegt, wird es in der zweiten Staffel auch einen Handlungss­trang in Colorado geben, wo „Shining“spielt – und wo auch Annie Wilkes („Sie“/„misery“) zuhause ist, die gerüchtewe­ise ebenfalls in der zweiten Staffel auftaucht.

Kings Multiversu­m

Castle Rock ist für eingefleis­chte Stephen-kingfans natürlich keine unbekannte Stadt. Selbst wer nur hin und wieder mal King liest, wird wahrschein­lich schon über den Namen gestolpert sein. Seine Romane „Stark“, „Cujo“, „Das Attentat“, „Zeitraffer“und „In einer kleinen Stadt“spielen hier, ganz zu schweigen von einer ganzen Reihe Kurzgeschi­chten. Die fiktive Stadt liegt auch ganz in der Nähe von Derry, wo unter anderem „Es“spielt, und Chester’s Mill, dem Schauplatz von „Under The Dome“, einer weiteren Fernsehser­ie, die auf Kings Werk basierte und 2015 nach drei Staffeln ausgelaufe­n war. Stephen King bezeichnet­e oft die achtteilig­e Saga um „Der dunkle Turm“als sein Lebenswerk, aber eigentlich ist es jene Horrorvers­ion von Maine, die er seit Jahrzehnte­n im Castle-rock-zyklus zusammenge­tragen hat und die so detaillier­t und umfänglich ist, dass man nach den Geschichte­n sogar Straßenkar­ten zeichnen könnte. Inwiefern die Ereignisse in den Städten aber in Bezug zueinander stehen, bzw. in derselben „Welt“stattfinde­n, ist oft fraglich, denn King vermischt gern Realitäten in seinem Konzept vom Multiversu­m, in dem verschiede­ne mehr oder weniger real anmutende Welten nebeneinan­der existieren. Ob also Castle Rock als fiktionale­r Ort in unserer Welt angesiedel­t sein soll, bleibt im Grunde offen.

Kleine Häppchen

Einer der Höhepunkte von „Castle Rock“ist zweifellos die Schauspiel­leistung von Sissy Spacek als demente Adoptivmut­ter der Hauptfigur. Wie es bei King oft der Fall ist, sind gerade die Figuren der Schlüssel, die behindert sind, krank oder gebrechlic­h. So ist es auch hier – ein tauber Mann erklärt Henry, was es mit dem Geräusch im Wald auf sich hat und Sissy Spaceks Figur veranschau­licht den Grad der verschoben­en Realitäten. Jedoch wird beides natürlich noch nicht vollständi­g erklärt – einer der ausführend­en Produzente­n der Serie ist J. J. Abrams, der nun wirklich nicht dafür bekannt ist, große Geheimniss­e vorschnell zu lüften, sondern das Publikum mit kleinen Häppchen über einen langen Zeitraum zu fesseln. Es bleibt zu hoffen, dass die Serie dafür ein wenig von den eher verwirrend­en alternativ­en Realitäten abrückt und sich mehr auf die meist recht geradlinig­e Erzählweis­e Kings einlässt, in der nicht so viele verschiede­ne Aspekte und Optionen aufeinande­rprallen. Denn dass man das auch zu weit führen kann, hat Abrams schon mit „Lost“gezeigt, offenbar aber nicht daraus gelernt. Im Gegensatz dazu bewies er in seiner 2016 produziert­en, gelungenen Mini-serie „11.22.63“, dass er sich auf King-geschichte­n doch ziemlich gut versteht. Dementspre­chend darf man sich bereits auf die zweite Staffel freuen, allein schon, um zu sehen, welche Figuren aus Kings Zyklus noch eingefloch­ten werden. Denn selbst wenn einen die Handlung irritiert, ist es doch schön zu sehen, wie eine Serie im Grunde nur eines macht: Stephen King und seine vielen Figuren zu huldigen.

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„Lost“-star Terry O‘quinn lungert mal wieder in einer J.-j.-abrams-produktion herum. Wie immer tut er das sehr gut, diesmal als Gefängnis-direktor. Kingfans erinnern sich bestimmt noch an den Knast in „Die Verurteilt­en“(1994)
 ??  ?? Ruth (S. Spacek) und ihr Adoptivsoh­n Henry (A. Holland) werden mit Unheimlich­em konfrontie­rt
Ruth (S. Spacek) und ihr Adoptivsoh­n Henry (A. Holland) werden mit Unheimlich­em konfrontie­rt
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Wie Kings „Es“haust der Schrecken auch in Castle Rock in den Abgründen der Kanalisati­on

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