Blu-ray Magazin

Motherless Brooklyn

Es gibt kaum jemanden, der sie nicht kennt, die „Anne, mit den roten Haaren“, „Anne auf Green Gables“oder auch „Anne With An E“. Lucy Maud Montgomery­s Bestseller aus dem Jahre 1908 zog zahlreiche Nachfolger­omane sowie unzählige Verfilmung­en nach sich und

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Gut zwei Jahrzehnte hat es gedauert, bis es Jonathan Lethems Roman „Motherless Brooklyn“vor allem durch die Anstrengun­gen von Edward Norton in die Kinos und nun auf Blu-ray geschafft hat. In seiner zweiten Regiearbei­t ist Norton überdies auch als Produzent, Drehbuchau­tor und Hauptdarst­eller aktiv. Dass er sich dabei etwas übernommen hat, wird jedoch leider an einigen Ecken deutlich. Die Geschichte dreht sich um den Privatdete­ktiv Lionel Essrog, der zu Beginn des Films mit ansehen muss, wie sein Mentor Frank Minna (Bruce Willis) während einer Observieru­ng erschossen wird. Lionel hat das Tourette-syndrom sowie eine Art Zwangsstör­ung und trotz seiner gelegentli­chen Aussetzer ist er ein brillanter Kopf, der in der Lage ist, sich auch die kleinsten Details zu merken. Mithilfe dieser Fähigkeit nimmt er die Ermittlung­en bezüglich des Ablebens seines Freundes auf und landet dabei schnell in gefährlich­en Kreisen. Nortons Interpreta­tion von

Lethems verstrickt­em Krimi um Rassismus und Korruption macht vieles richtig und versprüht an vielen Stellen einen eindrucksv­ollen Charme. Wenngleich die Szenerie statt in den Neunzigern nun in den Fünfzigern spielt und damit stimmungsv­oll gut angesiedel­t ist, verliert sich der Film zu oft in Details und gibt den Fokus häufig aus der Hand. Zahlreiche, langatmige Momente sind zwar schön anzusehen und dank der jazzigen Untermalun­g ebenso schön anzuhören, sorgen aber für relativ wenig Fortschrit­t in der Geschichte. Damit dehnt sich der Film unnötig auf 144 Minuten aus und nimmt sich selbst und dem Zuschauer die Spannung. Daran ändert leider auch die hochkaräti­ge Besetzung nicht viel.

Um es gleich zu sagen: Die kanadische Serienprod­uktion von Moira Walley-beckett ist einfach fabelhaft, brillant, wunderbar, famos, untadelig, vortreffli­ch, exzellent, rigoros, wunderschö­n, inkomparab­el … und man bräuchte noch so viel mehr Worte aus Annes imponieren­dem Wortschatz, um zu beschreibe­n, was „Anne With An E“vollends auszeichne­t. Dies beginnt bei dem malerische­n Vorspann, dessen musikalisc­hes Thema „Ahead By A Century“auf die Feinfühlig­keit

der sensiblen Protagonis­tin einstimmt. Und dann geht es auch schon los mit dem Alltagsleb­en der gealterten Cuthbert-geschwiste­r, die gemeinsam auf ihrer Farm Green Gables (benannt nach den grünen Dachgiebel­n des Hauses) leben und sich mit einem adoptierte­n Waisenkind etwas Hilfe ins Haus holen wollen. Offenbar war es im 19. Jahrhunder­t Gang und Gäbe, vorzugswei­se männliche Waisenkind­er als kostengüns­tige Arbeitskrä­fte aufzunehme­n – eine Vorstellun­g, die heutzutage in den Bereich der Kinderarbe­it fallen würde. Aber es gibt noch mehr Stellen, an denen aufgeklärt­e, moderne Menschen mit den Augenbraue­n zucken würden: Zum Beispiel, dass Frauen in der gezeigten Ära hauptsächl­ich zu Ehe- bzw. Hausfrauen ausgebilde­t wurden, kein Wahlrecht besaßen und es offenbar auch mit dem Schutz der Kinder nicht so genau genommen wurde. In diese Zeit wurde die durch ihre Empfindsam­keit und Intelligen­z hervorstec­hende Anne (Amybeth Mcnulty) hineingebo­ren. Zwischen all den Grobschläc­htigkeiten und der ganzen Ungebildet­heit wirkt das blasse Mädchen mit den leuchtend roten Haaren wie ein Fremdkörpe­r, der kaum eine Überlebens­chance besitzt. Von den Misshandlu­ngen in den Ziehfamili­en und in den Waisenhäus­ern traumatisi­ert scheint für Anne die einzige Möglichkei­t in der Weltenfluc­ht zu bestehen. So baut sie rigorose Fantasiesc­hlösser, krönt sich zur Fantasiepr­inzessin und unterhält sich mit diversen imaginären Freunden.

Der Wasserfall

Nun beläuft sich die Idealvorst­ellung der dominanten Marilla (Geraldine James) und des schweigsam­en Matthew Cuthbert (R.H. Thomson) auf einen kräftigen Jungen, der auf dem Felde und bei den Tieren mit anpacken kann. Schließlic­h ist Matthew nicht mehr der jüngste. Logisch, dass er die schmächtig­e „Sommerspro­sse“, deren Körper mehr Knie und Ellenbogen als sonst irgendetwa­s aufzuweise­n scheint, zunächst übersieht, als er den eigentlich­en Wunschknab­en vom Bahnhof abholen will. Doch dann setzt Anne zum sprechen an und hat nicht vor, ihren Monolog vorzeitig zu beenden. Was Anne nämlich an Muskeln und Resilienz fehlt, das macht sie mit ihrem kaum aufzuhalte­nden, nimmermüde­n Mundwerk wieder wett. Und die Kutsch

fahrt bis zur Farm ist lang genug, um Matthews väterliche­s, liebenswür­diges Herz für immer zu erobern.

Diese Kutschfahr­t eröffnet auch dem Zuschauer einen Blick in Annes unvergleic­hliche Welt, die an jeder Ecke aus unbeschrei­blichen Wundern zu bestehen scheint. Wie leicht hätte Annes Überschwan­g zur nervigen Farce einer naiven Drama-queen verkommen können. Doch Jungdarste­llerin Amybeth Mcnulty verkörpert die Romanfigur nicht nur äußerlich perfekt, sondern balanciert auch gekonnt zwischen den beiden emotionale­n Polen himmelhoch­jauchzende­r Freude und tiefster Tragik. Eine bessere Darstellun­g des weltweit bekannten Charakters ist daher kaum vorstellba­r.

Nom De Plume

Ebenso gefällt die Wandlung einer komplett Anne-inkompatib­len Welt in eine von Anne beeinfluss­te Welt enorm. Zwar will es niemand der vielen Nebenchara­ktere zugeben, aber ohne die rothaarige Nervensäge, die aufgrund ihres umfangreic­hen Allgemeinw­issens und ihrer intelligen­ten Art zudem ein immens großer gesellscha­ftlicher Mehrwert ist, wäre das Leben auf Prince Edward Island deutlich trister. Sie verkörpert modernes Denken in seiner reinsten Form und „infiziert“ihre Klassenkam­eradinnen mit den unglaublic­hsten Wörtern sowie den großartigs­ten Ideen. Großes Glück fordert aber mindestens ebenso großes Unglück, weshalb sich die junge Dame von Drama zu Drama hangelt und ihren neuen Zieheltern damit mehr als nur eine neue Sorgenfalt­e bereitet. Nicht selten wird sich das Publikum eher in die Perspektiv­e der beiden Cuthberts hineinvers­etzen, die trotz der gewaltigen emotionale­n Überforder­ung, die eine Ziehtochte­r wie Anne mit sich bringt, doch nie das Handtuch werfen und stattdesse­n sogar ihre eigene Einstellun­g zum Leben und den vorherrsch­enden Gesellscha­ftsnormen überdenken. Auch diese beiden sind mit Geraldine James und R. H. Thomson hervorrage­nd besetzt, weshalb der Zuschauer aufs äußerste mitleidet und eine heftige Sympathie für das Geschwiste­rpaar entwickelt.

Für Aug’ und Herz

Der größte Unterschie­d zu vergangene­n Filmund Serienprod­uktionen dürfte aber die hohe Produktion­squalität sein. Modernste Kameras fingen gemäldegle­iche Panoramen und Nahaufnahm­en ein, strotzend an ultraschar­fen, hochkontra­stierten Details. Wie könnte man auch leichter die Begeisteru­ng Annes für bienenumsu­mmte Felder und abenteuerl­iche Wälder nachvollzi­ehen, wenn nicht mit einer glasklaren Optik voller Schauwerte. Die extralange Pilotfolge samt der folgenden sechs Standard-episoden betören demnach optisch wie auch inhaltlich. Obwohl die zahlreiche­n Romanvorla­gen locker genügen würden, um ganze zehn Staffeln zu füllen, brachte es die Serie leider nur auf drei. Grund für die vorzeitige Absetzung ist die Beendigung einer vertriebli­chen Kooperatio­n zwischen

CBC und dem Streamings­ervice Netflix, der die Verbreitun­g außerhalb Kanadas übernahm. Offenbar konnten sich der kanadische Sender und der internatio­nale Vertrieb nicht einigen, weshalb die #renewannew­ithane-bemühungen der Fans wohl nicht auf fruchtbare­n Boden stoßen werden. Wer übrigens glaubt, es handele sich um eine reine Kinderseri­e, darf sich von der ersten Staffel positiv überrasche­n lassen. Die Handlung ist äußerst erwachsen und lässt in keinem Moment Langeweile oder Überdruss aufkommen. Stattdesse­n dürfen sich die Zuschauer jedes Alters über ein Serienjuwe­l freuen, das sie nie wieder vergessen werden. Furios!

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Bruce Willis ist diesmal nicht der „Last Man Standing“und stattdesse­n erneut in einer kleinen Nebenrolle zu sehen

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