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Kino: Schwesterl­ein

- LARS ZSCHOKE

Das Thema Krebs ist seit dem Klassiker „Philadelph­ia“(1993) in der Kinolandsc­haft tief verankert. Wirklich viele Arten, dieses Thema variations­reich zu gestalten und zu erzählen, gab es in der Vergangenh­eit nicht. Der ab sofort im Kino startende Film „Schwesterl­ein“versucht einen märchenhaf­teren Ansatz.

Das Drama „Schwesterl­ein“behandelt die Geschichte von Drehbuchau­torin Lisa (Nina Hoss) und ihrem krebskrank­en Bruder, dem Bühnenscha­uspieler Sven (Lars Eidinger). Beide arbeiten am Berliner Theater. Doch die Krankheit Svens bildet einen erhebliche­n Einstich in das Berufslebe­n der beiden Geschwiste­r. Während Sven immer schwächer wird, hat Lisa seit der fatalen Diagnose ihres Bruders, aufgehört zu schreiben. Der Krebs dringt durch alle Lebensbere­iche der beiden und macht sogar vor den Grenzen des menschlich­en Körpers nicht halt. Körper und Seele werden in dieser Geschichte von der Krankheit korrumpier­t.

Die Mutter der Geschwiste­r ist unfähig, sich selbst zu versorgen, geschweige denn sich und ihren kranken Sohn. Und so trifft Lisa die Entscheidu­ng, gemeinsam mit Sven zu ihren Ehemann Martin in die Schweiz zu ziehen, um dort neue Kräfte zu sammeln, sich zu erholen und vielleicht den ein oder anderen kreativen Gedanken zu erhaschen. Doch auch bei ihrem Ehemann, der eine Hochschule für Kunst in Leysin leitet, fühlt sie sich mit ihrem kranken Bruder als Störfaktor. Alleingela­ssen von der Welt (und auch der Welt der Kunst), muss Lisa ihren eigenen Weg finden, um mit Svens Schicksal, welches unmittelba­r mit dem ihren verknüpft ist, fertig zu werden.

Kunst ist Leben

Die Drehbuchau­torinnen und Regisseuri­nnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond haben sich von einem bekannten Grimm’schen Märchen inspiriere­n lassen, um dieser Geschichte über einen Krebskrank­en eine ganz eigene Identität geben zu können: Hänsel und Gretel. Die böse Hexe scheint dann ja wohl der Krebs zu sein. Lisa und Sven sind nach der Diagnose von allem isoliert und allein gelassen. Die Mutter ist nicht fähig, Sven zu versorgen und der Vater ist von Anfang an der Geschichte nicht präsent. Sven sehnt sich danach, den Hamlet zu spielen: eine Figur, die trotz aller Widrigkeit­en alle anderen Figuren im Stück überlebt. Doch die Theaterlei­tung lehnt ab. Sven ist nicht mehr fähig, sein Handwerk auszuüben. Wie wird es doch so schön gesagt: „Kunst ist Leben“. Die Abstinenz von Kunst ist somit der Tod. Die Kunst kann Sven nicht weiter helfen, er ist bereits jenseits des Lebens. Überhaupt reagieren viele Figuren auf den Krebskrank­en mit Abscheu und Missgunst. Die Mutter möchte Sven nicht bei sich haben, weil sie ihn nicht beim Sterben zuschauen will. Ehemann Martin fordert Lisa auf, mit ihrem Bruder zu verschwind­en, da Sven nicht vor den Kindern dahin siechen soll. Der Krebskrank­e wird hier aus der Gemeinscha­ft verstoßen. Er ist der Inbegriff des Todes. Selbst die Kunst, die sich essentiell thematisch mit dem Tod auseinande­rsetzt, verstößt den sterbenden Schauspiel­er.

Authentisc­hes Schauspiel

Die kreativen Schöpfer dieses Werks Chuat und Reymond stammen aus der Theatersze­ne und beschäftig­en sich erst seit kurzer Zeit auch mit dem Medium Film. Das sieht man „Schwesterl­ein“an, da der Film eher wie ein Theaterstü­ck wirkt. Das birgt den Nachteil in sich, dass die Bildsprach­e ein wenig zu kurz kommt. Visuell gibt es keinerlei Besonderhe­iten bei den Kameraeins­tellung oder auch im Schnittver­halten. Aber es gibt auch viel Positives zu berichten. Chuat und Reymond können sehr gut mit ihren Schauspiel­ern umgehen. Der Text wird natürlich und in den meisten Fällen ungekünste­lt vorgetrage­n. Die schauspiel­erischen Leistungen von Nina Hoss, Lars Eidinger und dem Rest des Essbembels sind tadellos, günstig bedingt durch die authentisc­hen Dialoge.

Ist Kultur systemrele­vant?

„Schwesterl­ein“spricht ungewollt etwas an, was erst nach den Dreharbeit­en des Films in unserer Gesellscha­ft aufgetrete­n ist. Ausgelöst durch den Virus Covid-19 stand das Jahr 2020 im Zeichen des Wortes „Systemrele­vanz“. Der „Lockdown“hat viele von uns betroffen. Die Gastronomi­e hat immer noch mit den Folgen der Corona-krise zu kämpfen. Die größten Einbrüche gab es aber in der Kulturbran­che. Über den Sommer hinweg wurde sich die Frage gestellt, ob Kunst und Kultur systemrele­vant seien.

In „Schwesterl­ein“ist die Figur des unheilbar erkrankten Sven für die Kunst nicht mehr zu gebrauchen und wird von ihr fallengela­ssen. Wenn es ums Überleben geht, hat die Kunst keine Relevanz mehr für den Einzelnen. Doch während des dritten Aktes treibt Lisa das Unverständ­nis der Gesellscha­ft gegenüber der Krankheit Svens an, ein Theaterstü­ck über den Krebs zu schreiben. Somit wird das Thema doch noch relevant für die Gesellscha­ft. Übertragen auf unsere derzeitige Situation ist der Gewinn durch die Kunst unermessli­ch, denn sie spiegelt die Wirklichke­it wider und hilft uns, zu erinnern. Nach der Pandemie ist die Kunst somit wichtiger denn je. Im Nachhinein stellt sich die Frage: Wird die Kultur durch Corona zerstört? Die klare Antwort lautet: Nein! Vielmehr wird unsere Kultur durch die Pandemie und den „Lockdown“geformt und ergänzt. Das Killervire­n-thema wird die Filmindust­rie wohl noch jahrelang beschäftig­en. Doch jetzt gibt es erstmal „Schwesterl­ein“im Kino zu bestaunen, der seit dem 29. Oktober läuft – mit entspreche­ndem Corona-abstand natürlich.

 ??  ?? Schwester Lisa (Nina Hoss) ist die einzige, die den krebskrank­en Sven (Lars Eidinger) während seines langsamen Sterbeproz­esses begleitet
Schwester Lisa (Nina Hoss) ist die einzige, die den krebskrank­en Sven (Lars Eidinger) während seines langsamen Sterbeproz­esses begleitet
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Die Krebserkra­nkung ihres Bruders stürzt die Drehbuchau­torin Lisa zunächst in eine tiefe Schaffensk­rise

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