Bring Me Home
Dass ausgerechnet die Hauptdarstellerin aus Park Chan-wooks „Lady Vengeance“(2005), Lee Yeong-ae, die Hauptrolle in diesem Vermissten-drama spielt, kann kein Zufall sein. So mimt die 50jährige auch hier eine Mutter, die von ihrem Kind getrennt wurde. Seit sechs Jahren sucht sie bereits verzweifelt nach ihm. Statistisch gesehen sind die Überlebens-chancen nach so langer Zeit gleich Null. Doch wie kann man als Elternteil je damit abschließen? Doch es gibt auch noch einen zweiten Grund, weshalb Yeong-ae die perfekte Wahl für die Rolle der Mutter ist. Wie bei den meisten brillanten koreanischen Unterhaltungsfilmen mit schwierigem Thema wechselt nämlich auch dieser im Laufe der Handlung das Genre. Nicht mit einem metaphorischen Knall oder einem unerwartetem Kellergang wie in „Parasite“(2019). Nein, hier geht der Wechsel schleichend und unbewusst vonstatten, sodass es der Zuschauer kaum bemerkt. Der Wandel beginnt mit der Einführung in den zweiten Handlungsstrang. Ein Polizisten-duo sieht in der Mittagspause das Bild des vermissten Jungen im Fernsehen. Dem jüngeren fällt die frappierende Ähnlichkeit des Fotos zu dem Jungen auf, der in der lokalen Fischerei aushilft. Der ältere von beiden wiegelt diesen Verdacht ab, vermutlich weil ihm der Beitrag zu unbedeutend erscheint. Doch Constable Kim (Hyun-woo Seo) ist sich sicher – das muss der Vermisste sein. Er nutzt die nächste Gelegenheit, um der Fischerei, einem Familien-betrieb, einen Besuch abzustatten und sich den besagten Jungen genauer anzusehen: Brandnarbe am Rücken, Muttermal hinterm Ohr, das Alter und Aussehen stimmen ebenfalls. Seltsamerweise ist die Ziehfamilie des nahezu tauben Jungen nicht so kommunikativ. Weitere Informationen einzuholen erscheint daher unmöglich, zumal auch Kims Kollege, der erfahrene Hong Kyeong-jang (Yoo Jaemyung) immer wieder deutlich macht, dass der Neuling besser nicht zu genau hinsehen sollte…
Der fremde Sohn
Als Zuschauer hat man ähnlich wie bei der Serie „The Missing“erst einmal ordentlich an der Anfangs-situation mit dem verschwundenen Kind zu knabbern. Zu gut kann man sich in die Eltern hinein versetzen, wodurch das Anschauen des Films zu etwas Unangenehmem wird, das man lieber ausschalten möchte. Allerdings gibt es ja noch Hoffnung, die Wahrscheinlichkeit eines Wiedersehens ist da und aus dem Drama könnte noch ein Film mit einem befreienden Happy End werden. Also schaut man weiter und wird immer mehr hineingesogen. Die Spannungskurve hält dabei nicht nur einen Höhepunkt parat, weshalb es selbst wenn man die Handlung am Ende glaubt, doch noch ein Stückchen weiter geht. Diese emotionale Wellenform deckt sich mit einem der Hauptmotive, dem unbändigen, wilden Meer mit seinen Gezeiten, welches in mehreren Situationen eine wichtige Rolle spielt. Der zweite Teil der Handlung nutzt die zuvor aufgebaute Anspannung, um auf deren Basis Wut und Angst beim Publikum zu erzeugen. Das ist übrigens unterhaltsamer, als es klingt, denn an keiner Stelle kippt es tatsächlich in die extreme Unerträglichkeit. Vergleichbar ist dieser emotionale Prozess mit Tobe Hoopers „Texas Chainsaw Massacre“(1974), wenn die Überlebende Sally voller Terror vor ihrem Kettensägen-schwingenden Verfolger flieht, nachdem die Handlung vor dieser heftigen Szene auf die aussichtslose Situation hinarbeitete. Beide Filme nutzen diese Methode, um beim Publikum unbewusst Anspannung erzeugen. Bei „Bring Me Home“hofft der Zuschauer auf die Zusammenführung von Mutter und Sohn, die jedes Mal so nah und doch so fern ist. In dieser Hinsicht bleibt der Film ein Drama, das der koreanische Regie-debütant Kim Seung-woo hervorragend mit unterschwelligen Motiven füllte. Den Hauptpart überlässt er den Zuschauern, die geschaffene Lücken in ihrer eigenen Fantasie füllen.