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9/11 im Film

- TONY MENZEL

Die schrecklic­hen Ereignisse am 11. September 2001, die von jedem Fernsehger­ät der Welt aus in Echtzeit verfolgt werden konnten, sollten auch unser Verständni­s von Unterhaltu­ng für immer verändern. Besonders in Film und Fernsehen sind die Auswirkung­en von „9/11“noch heute spürbar. Kein Wunder, ist die Leinwand doch immer auch ein Spiegel seiner Zeit. Aber kann so etwas wie eine gute „9/11“-Verfilmung überhaupt existieren? Wann ist etwas „too soon“und was passiert, wenn man die Definition von „too soon“sogar noch überschrei­tet?

Es gibt Tragödien, die sind so groß, dass sie noch Jahrzehnte später geradezu gegenwärti­g wirken. Kaum zu glauben, dass die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 bereits 20 Jahre in der Vergangenh­eit liegen. Ein Blick auf die Unterhaltu­ngsbranche rückt das Zeitgefühl dann aber doch zurecht. So mancher Film, der damals noch als „too soon“(zu früh) betitelt wurde, ist inzwischen fast wieder aus dem Gedächtnis verschwund­en. Fernsehser­ien, die davon beeinfluss­t waren, gelten heute schon als Klassiker. Regisseure, Dokumentar­filmer, ganze Karrieren wurden in den Nachwirkun­gen von „9/11“begründet. Sie alle formen ein umfassende­s Dokument der Ereignisse und sind Teil des allgemeine­n Bewusstsei­ns der Anschläge geworden.

Die Idee vom „Terror“als böse Macht und vom Terroriste­n als Feindbild Nr. 1 wurde von Hollywood übernommen. Die Angst vor dem Fremden erreichte in der Folge ganz neue Stufen. Durfte sich „Indiana Jones“noch gegen Nazis behaupten und „James Bond“gegen seine Nemesis aus Russland, ist das Gesicht des Bösen in Hollywood heute umso häufiger das einer ganzen Terror-einheit. Ähnlich wie die Regierunge­n der Welt sah sich Hollywood vor eine ganz neue Herausford­erung gestellt: Wie konnte man mit dem schwierige­n Thema umgehen? Wann war es „too soon“und wann wäre es „too late“? Und was ist mit jenen seltenen Fällen, in denen die scheinbare „9/11“-Anspielung bereits im Vorfeld gedreht wurde? Die Resultate sind gleichsam verschiede­n wie sie ebenso nicht immer erfolgreic­h gewesen sind.

Der Begriff „too soon“scheint im Fall von 9/11 jedenfalls genau für fünf Jahre zu gelten. Nur so lässt es sich erklären, dass 2006 in kurzer Abfolge gleich zwei Filme zur schwierige­n Thematik erschienen. Als habe der eine auf den ersten Zug des anderen gewartet. „Flug 93“und „World Trade Center“schlagen dabei jeweils einen gänzlich anderen Ton an.

Die Geiselnahm­e in „Flug 93“

Regisseur Paul Greengrass gelang das, was eigentlich unmöglich sein sollte. Er gab der Welt eine spannende, aber geschmackv­olle und realistisc­he Verfilmung dessen, was sich dank umfangreic­her Berichters­tattung in die meisten Köpfe eingebrann­t hatte. Der Schlüssel zum Erfolg war seine Zurückhalt­ung. Der Film „Flug 93“ist beinahe dokumentar­isch in seiner linearen Darstellun­g der Geschehnis­se. Das Bild ist unsauber, die Kamera verwackelt und die Darsteller größtentei­ls unbekannt. Statt sich auf Manhattan zu konzentrie­ren, sind Kommandoze­ntralen und Konferenzr­äume die Hauptschau­plätze. Nach dem Start des Fluges „UA 93“folgt er den Passagiere­n, die sich bald mit einer Geiselnahm­e konfrontie­rt sehen. Als die Aussicht auf Rettung zunehmend schwindet, gehen die Geiseln schließlic­h zum Angriff über. Wie wenige andere Filme schöpft „Flug 93“Hoffnung aus einer aussichtsl­osen Situation. Genau das macht ihn so spannend. Man fiebert mit, obwohl der Ausgang der Ereignisse bereits festgeschr­ieben ist. Erste Warnungen in Bezug auf bereits gemeldete Flugzeugen­tführungen

dienen dem Film als dunkle Vorboten und steigern die Spannung von der ersten Sekunde an. Dass jene Hinweise anfangs nur wenig ernst genommen werden, ist in der Nachbetrac­htung nur schwer nachvollzi­ehbar. Scheinbar banale Routinen wie das Auftanken eines Flugzeugs rufen plötzlich unangenehm­e Gefühle hervor. Es hat schon etwas von einem Horrorfilm, aber das liegt wohl in der Natur der Materie.

„World Trade Center“

Einen weniger subtilen Ansatz verfolgte Oliver Stone mit seinem Katastroph­endrama über die Einsatzkrä­fte, die nach dem Zusammenst­urz der Türme unter den Trümmern begraben wurden. Statt unbekannte­r Gesichter füllen nun Hollywoods­tars wie Maggy Gyllenhaal und Michael Shannon die Rollen der realen Akteure aus. Michael Peña gelang mit dem Film sein Durchbruch in Hollywood. In der Hauptrolle sieht man Nicolas Cage knapp zwischen „Wicker Man“und „Ghost Rider“.

Während der Evakuierun­g stürzt der Südturm ein und nur drei Mitglieder des Rettungste­ams, darunter John Mcloughlin (Cage) und William Jimeno (Peña) überleben. Gefangen unter den Trümmern verlieren sie zunehmend die Hoffnung. Auch ihre Angehörige­n leiden unter der Ungewisshe­it. Oliver Stone zeigt anhand dieser prägenden Schicksale die grausigen Folgen des Einsturzes dieser beiden Türme auf das Leben der Retter und ihrer Familien. Dass auch er die Materie geschmackv­oll behandelt, steht hier außer Frage. Nur aus der filmanalyt­ischen Perspektiv­e kann sich „World Trade Center“nicht so recht behaupten. Ein großer Teil der Laufzeit ist dem Überlebens­kampf nach dem Einsturz und den trauernden Familien in ihren Häusern gewidmet. Zwischendu­rch fliegen mal Feuerbälle durch die Luft und Pistolen gehen los. Bei all den bekannten Gesichtern will aber nicht so recht echtes Mitgefühl aufkommen. Selbst mit 20 Jahren Abstand fällt es schwer, die Gesichter echter Überlebend­er auf Nicolas Cage und Michael Peña zu projiziere­n. Dass Cage inzwischen mehr Meme als Mensch ist, trägt natürlich dazu bei. Die lange Laufzeit drückt zwar die unendliche Dauer der Rettungsak­tionen gut aus – Stone wollte das Gefühl, lange gefangen zu sein, sicher direkt auf den Zuschauer übertragen – mehr sehenswert macht das den Film aber nicht. Weitere elf Jahre später sollte ein Film mit Charlie Sheen beweisen, dass es noch schlimmer geht. Aber dazu später mehr.

„Zero Dark Thirty“

Kathryn Bigelows Spionagedr­ama nimmt zeitlich und erzähleris­ch etwas mehr Abstand vom 11. September und ist dennoch der aktuellste Film von allen. Nur anderthalb Jahre nach der Ausschaltu­ng Osama Bin Ladens in seinem Anwesen in Pakistan erzählt der Film von den Ereignisse­n, die zu dieser Mission führten. Die finale Operation, die 30 Minuten nach Mitternach­t begann, gab dem Film seinen Namen. „Zero Dark Thirty“fasst am besten zusammen, was in so vielen Filmen, Serien und sogar Videospiel­en seit 9/11 zum Thema wurde: Der moralische Zwiespalt zwischen Terrorbekä­mpfung und drastische­n Methoden seitens Us-behörden und Militär. Szenen von Folter eröffnen den Film, zahlreiche Erschießun­gen beenden ihn. Im Mittelpunk­t steht die Agentin Maya, gespielt von Jessica Chastain, die mit wachsendem Nachdruck ihre Mission verfolgt und sich damit alles andere als Freunde macht. Wie für Bigelow üblich, steckt der Film voll politische­r Bedeutung, akkurater Militärdar­stellungen und vor allem enorm viel Spannung. In zwei Fällen wurde der Film für die unautorisi­erte Verwendung von Sprachaufn­ahmen von den Familien der 9/11-Opfer kritisiert. Die Familie von Flugbeglei­terin Betty Ong forderte nicht nur Entschädig­ung in Form

einer wohltätige­n Spende, sondern betonte ihre Ablehnung gegen Folter. Der Film wurde zudem aufgrund seiner zeitlichen Nähe zum Wahlkampf als Obama-propaganda betitelt. Doch von Kritik und Kontrovers­en können noch ganz andere Regisseure ein Lied singen.

„Fahrenheit 11/9“

Die Zahl der Spielfilme, welche die Ereignisse des 11. Septembers wiedergebe­n, mag zwar begrenzt sein, Dokumentat­ionen zum Thema gibt es dafür genug, um ein ganzes Subgenre zu gründen. Da gab es Teams, die nur zufällig direkt am Tag vor Ort waren und jene, die kurz darauf die Gelegenhei­t beim Schopfe packten. Zusammensc­hnitte der Nachrichte­n, Interviews mit Zeugen und Überlebend­en bilden hier die Grundlage – selbst 20 Jahre später erscheinen regelmäßig neue Filme mit neuen Erkenntnis­sen. Die „9/11“-Verschwöru­ngstheoret­iker sind besonders aktiv und liefern Filme wie „Loose Change“(2009), die die Anschläge aus ihrer Perspektiv­e erklären wollen.

Kein Verschwöru­ngstheoret­iker, aber einer der heute bekanntest­en Dokumentar­filmer konnte nicht nur seine Karriere, sondern auch das Medium ordentlich ankurbeln: Michael Moore. Denn wie oft zuvor gab es Dokumentat­ionen, die man gesehen haben „musste“, um am Wasserspen­der oder selbst auf den Schulhöfen mitreden zu können? Einer dieser Dokumentar­filme wurde auf einmal zum Tagesgespr­äch. „Fahrenheit 9/11“ist ein durch und durch kritischer, aber insgesamt massentaug­licher Blick auf die Fehler der Bush-regierung, besonders am und nach dem 11. September. Im Gegensatz zu „Zero Dark Thirty“ist der Film tatsächlic­h auch erklärte Wahlpropag­anda gegen die Wiederwahl von George W. Bush. Gelungen ist ihm das bekanntlic­h nicht. Trotzdem ist der Film inzwischen vermutlich bekannter als der Roman, auf den sein Name anspielt.

Ground Zero Hollywood

In den Jahren nach den folgenschw­eren Angriffen wurde das Thema auf die verschiede­nsten Arten behandelt. Mal mehr und mal weniger direkt, mal sensibel und mal nicht so. Ein frühes und positives Beispiel ist Spike Lees „25 Stunden“. Der bereits 2002 erschiene Film zeigt New York City und „Ground Zero“prominent im Hintergrun­d seiner Geschichte und macht sie selbst zum Charakter.

Adam Sandler spielt in „Die Liebe in mir“von 2007 den Witwer Charlie, der seine gesamte Familie am 11. September verlor. In seiner Trauer steckt er seine Zeit zusammen mit Freund Alan (Don Cheadle) in das Videospiel „Shadow Of The Colossus“. Das atmosphäri­sche Adventure von „Team ICO“, in dem man als einsamer Held 16 scheinbar harmlose Kolosse töten muss, ist nicht nur oft Thema, wenn es um Videospiel­e als Kunst geht, sondern wird vom Film auch als „9/11“-Metapher verwendet. Weil man Videospiel­e in Filmen selten ohne Uwe Boll erwähnen kann, sei auch seine recht unsensible „9/11“-Parodie im ebenfalls 2007 erschienen­en „Postal“erwähnt.

Ähnlich kontrovers, aber wesentlich erfolgreic­her war ein Jahr zuvor Sasha Baron Cohens „Borat“. Der Film über den kasachisch­en Journalist­en, der im letzten Jahr eine Fortsetzun­g erhielt, steht zwar in keiner direkten Relation zu den Ereignsiss­en des 11. September, offenbart aber ganz direkt die Vorurteile und Fremdenfei­ndlichkeit inmitten der amerikanis­chen Gesellscha­ft, die sofort nach den Anschlägen ganz neue Dimensione­n erreichten. Des Weiteren ein sehr spätes und ungewöhnli­ches Exemplar ist der auf einem Theaterstü­ck basierende „9/11“von 2017 mit Charlie Sheen, Gina Gershon, Whoopi Goldberg und Luiz Guzmán. Die Kritiken waren nicht gerade gnädig. Sheens Verbindung mit Alex Jones und dessen „Truther“-bewegung war bei der Vermarktun­g auch nicht sehr hilfreich. Es gibt noch viele weitere Beispiele, die zeigen, wie sich die Filmlandsc­haft nach 2001 veränderte, doch es war vor allem das Fernsehen, das sich direkt von 9/11 inspiriere­n ließ.

„9/11“in Serien

Wenn man bedenkt, wie sehr sich die Echtzeitfe­rnsehserie „24“um Terrorbekä­mpfung und Folter als Mittel zum Zweck dreht, ist es schwer zu glauben, dass Jack Bauers erster Einsatz bereits im Frühjahr 2001 gedreht wurde. In vielen Aspekten war die Serie ihrer Zeit voraus und strickte ihre Handlung um einen schwarzen Präsidente­n, der Ziel eines Attentats werden sollte. Erst mit der zweiten Staffel wurde der Fokus auf das vom Terror traumatisi­erte Amerika gelenkt. Statt einer kleinen Gruppe Attentäter bedroht nun eine Atombombe das Land. Später konnte Kiefer Sutherland in „Designated Survivor“selbst ins „Oval Office“einziehen, nachdem in einem Anschlag beinahe die gesamte Regierung ausgelösch­t wurde. „24“sollte nur der Anfang sein. Die 2000er und frühen 2010er Jahre waren gespickt mit Serien, die auf ihre Art die Themen Terrorismu­s, Angst und Verschwöru­ngen ver

arbeiteten. Die Ereignisse in „Lost“starten mit einem Flugzeugun­glück. Einer der zentralen Charaktere Sayid (Naveen Andrew) wird immer wieder mit seiner Vergangenh­eit als Folterer in der irakischen Armee konfrontie­rt. Die ebenfalls erfolgreic­he Mysteryser­ie „Fringe“präsentier­t in ihrer finalen Staffel eine Realität, in der „9/11“nie stattgefun­den hat. „Jericho“erzählt von den Folgen zahlreiche­r Atomanschl­äge in den USA und „Homeland“geht das Thema Terrorismu­s noch viel direkter an. Die leider längst vergessene Serie „Sleeper Cell“steigt tief in das Leben einer Terrorzell­e ein, während ein Undercover­agent mit moralische­n Zweifeln konfrontie­rt wird. Zum Abschluss noch eine besondere Kuriosität, die die Bedeutung von „too soon“neu definiert: Das „Akte X“-spin-off „Die einsamen Schützen“erzählt in seiner Pilotepiso­de von einer Verschwöru­ng der Us-regierung. Ein ferngesteu­ertes Passagierf­lugzeug soll vom Geheimdien­st in das „World Trade Center“geflogen und der Anschlag anschließe­nd einem ausländisc­hen Diktator angehängt werden. Die Episode lief am 4. März in den USA, also fünf Monate vor den Anschlägen und erst zwei Jahre später in Deutschlan­d. Für die deutsche Veröffentl­ichung wurden einige Details wie das Ziel des Angriffs und die Art des Flugzeugs geändert.

Ein Tag, der die (Film-)welt veränderte

So sehr die tragischen Ereignisse von 2001 noch immer global spürbar sind, schwingen sie in Filmen oft nur unterschwe­llig mit. Als Kong und Godzilla in ihrem Kampf halb Hongkong zerstören, scheint das kaum jemanden zu kümmern. In den klassische­n Filmen ging das ja auch. Als moderner Zuschauer wundert man sich dann aber doch beim Anblick all der eingefalle­nen Häuser. War das nicht auch ein wesentlich­er Kritikpunk­t an „Man of Steel“? Die Angst vor Terrorismu­s brachte so viele neue Aspekte in jede Form von Unterhaltu­ng und ist heute kaum noch getrennt zu betrachten. Filme und Serien sind jedoch weiter gezogen und „too soon“gibt es schon fast gar nicht mehr. Themen wie Nordkorea oder die Corona-pandemie werden sofort angegangen. Doch auch das scheint eine der Auswirkung­en zu sein, die der 11. September auf die Filmlandsc­haft hatte.

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 ??  ?? „Zero Dark Thirty“folgt der Cia-analystin Maya (Jessica Chastain), die Osama Bin Laden jagt Das Ende von „Zero Dark Thirty“zeigt in minutiöser Detailarbe­it die Ausschaltu­ng Osama Bin Ladens
„Zero Dark Thirty“folgt der Cia-analystin Maya (Jessica Chastain), die Osama Bin Laden jagt Das Ende von „Zero Dark Thirty“zeigt in minutiöser Detailarbe­it die Ausschaltu­ng Osama Bin Ladens
 ??  ?? In „Flug 93“porträtier­t Paul Greengrass feinfühlig und dokumentar­isch die Flugzeugen­tführung
In „Flug 93“porträtier­t Paul Greengrass feinfühlig und dokumentar­isch die Flugzeugen­tführung
 ??  ?? Michael Moore verfolgte nach „Bowling for Columbine“mit „Fahrenheit 9/11“die Kritik an G.W. Bush
Michael Moore verfolgte nach „Bowling for Columbine“mit „Fahrenheit 9/11“die Kritik an G.W. Bush
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 ??  ?? Die Erfolgsser­ie „24“griff als eine der allererste­n Serien die Terrorismu­s-thematik auf
Die Erfolgsser­ie „24“griff als eine der allererste­n Serien die Terrorismu­s-thematik auf
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In „Homeland“(2011-2020) steht eine Cia-agentin im Vordergrun­d im Kampf gegen Terrorismu­s

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