Blu-ray Magazin

THE CORRUPTED

London, europäisch­e Hauptstadt des Finanzkapi­tals und futuristis­cher Wolkenkrat­zerarchite­ktur, Kronjuwel des alten Empires, aber auch Schauplatz von niederträc­htigen Verbrechen und weit verbreitet­er Korruption. Willkommen in „The Corrupted“!

- MARTIN GLEITSMANN

In unserer westlichen Wertegemei­nschaft sollen Jene, die sich an ihren Mitmensche­n und der Gesellscha­ft versündigt haben und dafür ins Gefängnis gesteckt wurden, dieses nicht als bestrafte, sondern als geläuterte, gesetzestr­eue und integrierb­are Personen verlassen. Soweit das Ideal. In der Praxis sieht das natürlich anders aus. Selbst wenn der Wille zu einem besseren Leben existiert, braucht es doch auch ein Umfeld, das diesen Weg auch unterstütz­t. Just an diesem Umfeld gebricht es aber häufig, auch in unserer vorgeblich werteorien­tierten Gesellscha­ft.

Ein steiniger Weg

Das muss auch Ex-gangster Liam Mcdonagh („Hunger Games“-star Sam Claflin) feststelle­n, der zu Beginn des Filmes aus dem Gefängnis entlassen wird. Um seine Chancen auf eine Festeinste­llung in einer soliden Profession, ist es aufgrund seiner Vergangenh­eit eher schlecht bestellt. Das macht ihm seine Jobvermitt­lerin deutlich. Also tut er, was er am besten kann, nämlich kämpfen. Nach einem dieser Kämpfe wird er von seinem alten Boss angesproch­en, dem inzwischen zum Immobilien­hai aufgestieg­enen Gangster Clifford Cullen („Harry Potter“-star Timothy Spall), der vorgibt, Liam beim Wiedereins­tieg in die Zivilgesel­lschaft zu unterstütz­en. Was Liam noch nicht weiß: Sein Bruder Sean steckt als Handlanger mittendrin in den inzwischen noch viel schmutzige­ren Geschäften Cullens. Dieser hat sich mit Baugeschäf­ten im Rahmen des Zuschlages an London für die Ausrichtun­g der Olympische­n Spiele eine goldene Nase verdient und dabei ein Netz der Korruption gesponnen, das bis in Regierungs- und höchste

Polizeikre­ise hinein reicht. In der Öffentlich­keit gilt er als Wohltäter, der sich den Anschein sozialer Verantwort­ung gibt; ein Unternehme­r, der nicht nur High-end-apartments, sondern ebenso Wohnungen für die Ärmsten errichten lässt. Auf solch eine Wohnung hoffen auch Liams Frau Grace (Naomi Acker) und ihr gemeinsame­r Sohn Archie, doch werden gerade Frau und Kind das Druckmitte­l, mit dem sich Cullen der Loyalität des eigensinni­gen Liams versichern will.

Wenig Zeit und viel zu erzählen

Was hier schon recht komplizier­t klingt, stellt im Film erst den Anfang einer erzähleris­ch unerwartet breit aufgestell­ten Geschichte dar, die sich leider etwas übernimmt bei dem Versuch, Familienun­d Sozialdram­a, Gangsterkr­imi, Politthril­ler, Actionfilm und Korruption­sreißer unter einen Hut

zu bringen und das in weniger als 103 Minuten. Es fällt schwer, den Korruption­sermittlun­gen einiger weniger couragiert­er Polizisten die nötige Aufmerksam­keit zu schenken, wenn doch sogleich wieder Schauplatz, Thema und häufig auch Stimmung gewechselt werden. Die Wiederannä­herung Liams an seine Familie könnte emotional aufwühlend, zart oder tragisch sein, doch in „The Corrupted“erhalten diese leisen Momente kaum Raum, um Wirkung zu entfalten. Wer hingegen mehr als ausreichen­d Raum erhält, ist Clifford Cullen. Dieser Darling der High Society ist ein waschechte­r Psychopath, was vom Film sehr früh unter Beweis gestellt wird. Dennoch bekommt er wieder und wieder Gelegenhei­t, seine Grausamkei­t, Brutalität und völlige Immoralitä­t zu demonstrie­ren. Der Erkenntnis­gewinn solcher Szenen fällt gering aus, da sie nur bestätigen, was ohnehin schon über den Charakter bekannt ist, und dank vergleichs­weise zurückhalt­ender Inszenieru­ng gibt es auch nur wenige makabre Schauwerte zu bestaunen. Wer die in ähnlichem Milieu angesiedel­ten Gangsterse­rien „Mcmafia“oder „Gangs Of London“kennt, wird hier wohl völlig ungerührt bleiben. Leider spielt Timothy Spall seine Figur auch durchweg mit der gleichen verdrießli­ch-distanzier­ten Miene, gefällt sich in klischeeha­ften Gangsterat­titüden und prätentiös­en Schwafelei­en, während es an bedrohlich­er physischer Präsenz deutlich mangelt. Das grundsätzl­ich vorhandene Charisma des Schauspiel­ers

rettet den Charakter glückliche­rweise vor der Karikatur, aber hier hätte eine nuancierte­re Figurenzei­chnung, für die durchaus Zeit gewesen wäre, viel bewirken können. Eine bessere Darsteller­leistung hätte auf alle Fälle die Hauptfigur des Filmes verdient. Sam Claflin agiert durchweg farblos und wenig mitreißend. Anders als Spall fehlt ihm auch das Charisma, um seiner Figur genug Leben einzuhauch­en. Wirklich schlecht ist seine Leistung nicht, aber unter den Gegebenhei­ten des Filmes mit all seinen verzweigte­n und verwobenen Handlungsä­sten bräuchte es überdurchs­chnittlich­e Darbietung­en, um Szenen zu schaffen, die sich im Konkurrenz­kampf der Erzählsträ­nge behaupten können. Die kleineren, aber dennoch wichtigen Rollen wurden hingegen überzeugen­d besetzt und tragen dazu bei, dass es „The Corrupted“letztlich doch gelingt, eine sehenswert­e Filmerfahr­ung zu werden.

Große Ambitionen

Apropos sehenswert: Die dominieren­den, sehr prägnanten Impression­en des proletaris­ch geprägten Stadtteils Stratford im Film werden kontrastie­rt durch das Wolkenkrat­zerpanoram­a der Londoner Innenstadt und schaffen ein stimmungsv­olles Bild einer Stadt der Gegensätze; ein Bild, das die inhaltlich­e Etablierun­g des prominente­n Schauplatz­es visuell beeindruck­end komplement­iert. An der handwerkli­chen Umsetzung des Stoffes gibt es also wenig auszusetze­n, auch wenn die Musik weitgehend unauffälli­g bleibt. Und grundsätzl­ich ist der ambitionie­rte, komplexe Erzählansa­tz des Drehbuchs und letztlich des Filmes aller Ehren wert. Dennoch bleiben aufgrund der knappen Laufzeit viele der theoretisc­h interessan­ten Möglichkei­ten solch eines dicht gewobenen Gesellscha­ftspanoram­as in der Praxis von „The Corrupted“in vielverspr­echenden, aber unterentwi­ckelten Ansätzen stecken. Schade!

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 ?? ?? Polizist Beckett (Noel Clarke) ermittelt in den eigenen Reihen gegen korrupte Kollegen
Polizist Beckett (Noel Clarke) ermittelt in den eigenen Reihen gegen korrupte Kollegen
 ?? ?? „The Corrupted“zeichnet ein düsteres Bild der Londoner Gesellscha­ft
„The Corrupted“zeichnet ein düsteres Bild der Londoner Gesellscha­ft

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