JAN BRANDT – VERGESSLICHE MOMENTE XXXIII ICH RENNE MIT ZEHRERINHO UM DIE WETTE UND VERLIERE IHN HINTERM HORIZONT AUS DEN AUGEN
Wir waren beide Flügelläufer, er auf der rechten Seite, ich auf der linken, beide gleich schnell, oder, je nach Betrachtungsweise, gleich langsam. Aber das machte nichts, weil unsere Gegner meist auch nicht mehr Tempo machten. Wir liefen ihnen nicht davon, wir liefen nebeneinanderher, und wenn wir Glück hatten, waren wir eine Sekunde vor ihnen an der Grundlinie und schafften es mit letzter Kraft, den Ball in den Strafraum zu flanken. Das war unser Spiel bei der AutoNaMa, der Autorennationalmannschaft, einem Verein fußballverrückter Schriftsteller, die sich einmal die Woche in Berlin Mitte treffen, um gegen andere Mannschaften aus der Freizeitliga anzutreten oder bei Turnieren gegen andere Schriftstellernationalmannschaften.
In Bremen, im Sommer 2006, bei einem dieser Turniere, die damals noch Weltmeisterschaften hießen, obwohl nur Teams aus vier europäischen Nationen antraten – Schweden, Ungarn, Italien und Deutschland –, lernte ich Klaus Cäsar Zehrer kennen. Wir fuhren mit dem Auto von Berlin dorthin, stellten fest, dass wir beide in Kreuzberg wohnten, beide noch keine Bücher veröffentlicht hatten, abgesehen von Anthologien, fragten uns aber nicht, was wir denn dann hier in dieser Mannschaft eigentlich zu suchen hatten – im Gegensatz zu unseren Mitspielern –, sondern spielten einfach mit, wollten nicht mehr, als wir konnten, wollten bloß mithalten und unseren Spaß haben.
Mit Spaß kannte er sich nämlich aus: Er hatte ein Praktikum bei der Titanic absolviert und über die Dialektik der Satire – Zur Komik von Robert Gernhardt und der Neuen Frankfurter Schule promoviert, und wenn er einen Witz machte, dann so wie ein Ostfriese: ohne die Mundwinkel zu verziehen. Dabei stammte er aus Franken, aus Schwabach, einer Kleinstadt, südlich von Nürnberg.
Ich hatte die Nummer 10, Klaus die Nummer 8, auf meinem Trikot stand Brandt, auf seinem Zehrerinho. Im Laufe der Zeit entwickelte sich Klaus zum Organisator. Er übernahm das Amt des Kassen- warts, kaufte die Tickets für unsere Reisen nach Nürnberg, Malmö, Tel Aviv, Jerusalem, Riad und London, wusste, welchen Zug oder Flug wir nehmen mussten, in welchen Hotels wir wohnten, gegen wen wir wann antreten sollten, machte sich also, da niemand Lust hatte, sich darum zu kümmern, unverzichtbar. Das war der Moment, an dem ich, beruhigt, dass es auch ohne mich mit dem Autorenfußball weitergehen würde, meinen Abschied verkündete, um mich ganz dem Schreiben zu widmen. Klaus spielte weiter. Manchmal, wenn wir uns trafen, berichtete er mir noch von den Ergebnissen und Ereignissen, und jedes Mal war ich froh, nicht mehr dabei zu sein. Mit dem Comiczeichner Fil schrieb er ein Kinderbuch mit dem Titel Der Kackofant, das bei den Kindern meiner Freunde inzwischen einen ähnlichen Kultstatus genießt wie Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat.
Am 10. Juni 2015 kam er mich in der Bleiche besuchen, ein Nobelhotel im Spreewald, in dem ich für einen Monat als Stipendiat weilte und in dem er im Sommer darauf weilen sollte. Er kam nicht mit dem Zug oder Auto aus Berlin, sondern mit dem Fahrrad, 110 Kilometer in fünf Stunden. Er trug eine kurze Hose und ein schwarzes T-Shirt und war zu meiner Verwunderung weder verschwitzt noch erschöpft. Beim Frühstück, am Kahnhafen, erzählte er mir zum ersten Mal von seinem Roman über den US-Amerikaner William James Sidis, ein Wunderkind, das mit acht Jahren eine eigene Sprache entwickelt, mit elf Jahren in Harvard studiert und sich als Erwachsener aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte.
Klaus Cäsar hatte schon einen Beitrag für den Deutschlandfunk über die- sen Mann geschrieben, Der intelligenteste Mensch aller Zeiten, und einen Text für Das Magazin – Das geplante Wunderkind –, „aber“, sagte er damals, „ich wusste, da steckt mehr drin, da kann man mehr erzählen“. Seit Sommer 2012 arbeitete er an dem Manuskript, er sagte, er sei fast fertig, nur das Schlusskapitel fehle noch, doch jetzt sei er beim Überarbeiten in eine Krise geraten: Ihm sei aufgefallen, dass er alles, was er bisher geschrieben habe, etwa 700 Seiten, noch einmal neu schreiben müsse, der Ton stimme nicht.
Zu keinem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, dass Klaus nicht fertig werden würde, er war ein Mann der Ausdauer, war bereits zwei Marathons gelaufen, in Berlin und in der Schorfheide, und hatte mit 3:57 eine beachtliche Bestzeit hingelegt. Im Frühjahr dieses Jahres sah ich dann, dass Diogenes sein Buch Das Genie zum Spitzentitel des Verlags erkoren hatte, 645 Seiten, die er mir in Form eines Leseexemplars am 6. Juni in Kreuzberg überreichte. Zwei Monate später, am 1. August, trafen wir uns an selber Stelle wieder, im Café Freudenberg, um über seinen großen Bildungsroman zu sprechen, diese kolossale Geschichte, in der ein Vater seinen Sohn zum Genie erzieht, ein Schmöker, ein echter Pageturner, erzählt wie aus alter Zeit. Ich gratulierte ihm, dass er dieses Werk doch noch vollendet hatte, und er sagte: „Langstrecken liegen mir, wo man einen langen Atem braucht und viel Geduld, wo man das Ziel erst einmal nicht sieht, aber weiß, hinterm Horizont, irgendwann kommt’s.“Ohne die Mundwinkel zu verziehen, fügte er hinzu: „Jetzt kann ich beruhigter sterben als vor zehn Jahren.“