DIE SURREALISTISCHE MÄRCHENERZÄHLERIN
Amélie Nothomb hat als Toilettenfrau in Japan gearbeitet, bevor sie Schriftstellerin wurde. Nun ist die Belgierin Bestsellerautorin, Vielschreiberin und geht jeden Tag ins Büro, um Stapel von Leserbriefen zu beantworten. Das BÜCHERmagazin hat sie dort, bei ihrem französischen Verlag Albin Michel, zum Interview getroffen.
Frau Nothomb, wie wichtig sind Ihnen Ihre Leser? Ich liebe sie – das kann man schon so sagen. Sie verwöhnen mich, also behandele ich sie gut und antworte auf jeden Brief, solange er in einem höflichen Ton verfasst wird.
Auch Briefe aus dem Ausland?
Wenn sie auf Koreanisch geschrieben sind, dann wird es schwierig … Außerhalb von Frankreich und Belgien haben die Leser jedenfalls einen unvoreingenommenen Blick, der nicht durch meinen Ruf oder irgendwelche Legenden über mich verstellt ist. Das ist für mich sehr erfrischend!
Als Tochter eines belgischen Diplomaten sind Sie sehr viel gereist, Ihre Leidenschaft für Japan ist legendär. Inwiefern hat die frühe Begegnung mit anderen Kulturen Ihre Schreibkunst geprägt? Paradoxerweise hat das meine Bücher insofern bereichert, als dass ich tiefe Kenntnisse der französischen Sprache erlangt habe. Ich hatte eine faszinierende Kindheit, aber alle drei Jahre ging die Welt zu Ende, ich verlor alles und musste woanders von vorne anfangen. Die Folge war: Ich habe mich an dem einzig Stabilen festgehalten – der Literatur, der Sprache. Die Büchersammlung meiner Eltern, die sehr viel lasen, reiste mit uns. So habe ich alles in die Literatur investiert, später Philologie studiert. Alles Folgen meiner Entwurzelung.
Sie gehören zu den erfolgreichsten Autoren der „Frankophonie“– des französischen Sprachraums. Ist das für Sie ein wichtiges Identitätsmerkmal?
Das Schicksal wollte, dass ich frankophon bin, aber ich würde nicht sagen, dass ich die französische Sprache abgöttisch verehre und denke, sie sei schöner als jede andere. So sehr ich französischsprachige Autoren aus Afrika liebe, ich fühle mich japanischen Schriftstellern näher. Den Begriff der Frankophonie möchte ich in keinster Weise geringschätzen, aber als angeblicher Kulturtempel wurde sie in den 70er- und 80er-Jahren etwas überbewertet.
Heute spricht man viel von der Vielfalt der französischsprachigen Literatur. Haben die Franzosen jegliche Arroganz gegenüber kleineren Ländern oder ehemaligen Kolonien abgelegt?
Da ich eine belgische Autorin bin, ist meine Sprache nicht genau die, die in Paris gesprochen wird. Das hat seltsame Fol- gen gehabt. Wenn ich eine spezifische Formulierung benutze, vermuten die Franzosen darin eine belgische Ausdrucksweise. Ich schätze die belgische Mundart, keine Frage, aber ich musste in Frankreich immer wieder darauf beharren: Nein, das ist meine eigene, nothombische Ausdrucksweise! Die Franzosen hatten früher diese gönnerhafte Pose. Das ist heute nicht mehr ganz so – im Alltag und auch im Literaturbetrieb.
Gibt es jenseits der Sprache eine belgische Literatur? Die belgische Literatur ist die surrealistischste Literatur der Welt und darin erkenne ich mich auch.
In Ihrem Buch „Töte mich“erfährt der Graf Neville von einer Hellseherin, dass er einen Menschen töten wird. Seine pubertierende Tochter meldet sich freiwillig für die Opfer-Rolle. Ist das tatsächlich surrealistisch?
Was woanders als absurd erscheint, ist in dem belgischen Adel überhaupt nicht unglaubwürdig. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich komme aus diesem Milieu. Es ist ein mikroskopisches, rückständiges und in seiner Existenz bedrohtes Milieu, wo solche verrückten Geschichten durchaus möglich wären.
Der Roman ist einer Erzählung von Oscar Wilde – Lord Arthurs Saviles Verbrechen – entlehnt.
Es ist ja meine Version dieser Geschichte, eine Posse – aber auch ein Text über das Schicksal. Ich bin wie viele Leute gespalten: Meine rationelle Seite meint, Hellseherei ist Quatsch; meine irrationale Seite hingegen – und das ist auch meine belgische Seite – lässt sich davon überzeugen, liest keine Horoskope aus Angst, sie könnten Wahres enthalten, oder geht Hellsehern aus dem Weg, weil ich ihnen sonst doch glauben könnte bzw. ihren Anweisungen folgen würde.
„Töte mich“ist auch ein Märchen. In den letzten Jahren greifen Sie oft zu dieser Form oder interpretieren Klassiker dieses Genres neu. Warum?
Ich mag die Struktur des Märchens. Gleichzeitig gehören die Märchen zu unserem allgemeinen Kulturgut und sprechen jeden an. Mit ihnen kann man sehr ernste Themen mit großer Leichtigkeit behandeln. Meiner Meinung nach ist Literatur dazu da, die ernsthaften Fragen, wie die nach dem Schicksal, dem Tod, dem Vatermord, den nicht im