KEIN PÜPPCHEN
Lana Lux schreibt mit „Kukolka“einen erschreckenden und zugleich ermutigenden Roman über Missbrauch an Kindern, Menschenhandel und Prostitution.
Ein Einkaufsbummel bei Karstadt. In der Spielzeugabteilung gibt es Barbies. „Es waren keine 1000. Aber 100 waren es wahrscheinlich schon. Barbies mit blonden, roten und schwarzen Haaren. Barbies als Ballerinen, als Ärztinnen oder als Schwangere.“Die 15-jährige Samira, Hauptfigur in Lana Lux’ Debütroman „Kukolka“, sucht sich eine aus, eine ohne Unterleib, mit Meerjungfrauenschwanz. Dafür hat sie gute Gründe, wie man an dieser Stelle, ziemlich nahe am Ende des Romans, bereits weiß. Und all die großäugigen Mädchenfrauen aus Plastik, die dazu da sind, sie an- und auszuziehen und deren Arme und Beine man nach Belieben verbiegen und verrenken kann, haben an dieser Stelle etwas Anklagendes an sich. Sie erinnern an echte Frauen, die wie Puppen behandelt werden, die verkauft und benutzt werden, und entsorgt, wenn keiner mehr Lust hat, mit ihnen zu spielen.
Zum ersten Mal wird Samira mit sieben Jahren „Kukolka“, „Püppchen“, genannt. In ihrer Heimat, der Ukraine, aus dem Kinderheim weggelaufen, träumt sie davon, sich nach Deutschland durchzuschlagen. Sie möchte ihre Freundin Marina aufsuchen, die dorthin adoptiert wurde. In der Hoffnung, Geld sparen zu können, schlüpft sie zunächst bei Rocky unter, einem älteren Mann, der nach Schweiß und Zwiebeln stinkt und Straßenkinder zum Betteln und Klauen schickt. Samira, von nun an „Kukolka“, wird die jüngste einer kleinen Gruppe heimatloser Kinder. Das Leben in dem verdreckten Haus bietet dem Heimkind zwar das Gefühl, geborgen in einer Gemeinschaft zu sein, doch ist sie dort auch Rockys Willkür und pädophilen Neigungen ausgesetzt. Sie schließt Freundschaft mit Dascha und Lydia, zwei älteren Mädchen, beide durch sexuellen Missbrauch geprägte und gebrochene Figuren, und erlebt den tragischen und plötzlichen Tod beider. Als Samira selbst in die Pubertät kommt, verschärft sich die Situation im Haus, und es eröffnet sich eine Fluchtmöglichkeit.
Samira, die ihr Talent zum Singen entdeckt hat, begegnet bei einem Straßenkonzert dem geheimnisvollen, sagenhaft reichen und wunderschönen Dima, der bald mit einem Strauß roter Rosen vor ihr steht. Dima, der sie zu ihrem eigenen Erstaunen auch „Kukolka“nennt, entführt sie aus Rockys Dunstkreis zunächst in eine Märchenwelt aus Luxus und Liebe. Und er lässt das wahr werden, woran sie schon nicht mehr geglaubt hatte: Er bringt sie mit einem falschen Pass nach Deutschland.
Dass sich hinter diesem märchenhaften Verlauf der Geschichte nur noch größere Schrecken auftun, ahnt der erwachsene Leser schnell. Und es tut weh, der Teenagerin dabei zuzusehen, wie sie mit dem ganzen grenzenlosen Vertrauen der ersten Liebe in die Falle läuft. Dima wird zunächst zu Samiras Zuhälter, organisiert Treffen mit verschiedenen Männern. Samira gerät in eine Spirale, in deren Verlauf sie in immer drastischerer Form verkauft, missbraucht, benutzt wird.
Lana Lux, die selbst Mutter einer kleinen Tochter ist, litt als Samiras Schöpferin sehr mit ihrer Figur: „Ich muss gestehen – es tat weh. Es tat vor allem weh, Samiras Erzählung im Kopf zu haben. Durch die Recherchen noch mehr Bilder, Worte, Sätze im Kopf zu haben. Es war ein Gefühl, als wäre ich bei all den Dingen dabei und würde tatenlos zu sehen, welches Leid ihr zugefügt wird. Das Schreiben selbst war dann eher eine Erleichterung, denn ich hatte das Gefühl, etwas tun zu können für Samira und damit für all die Mädchen, für die Samira steht.“
Am meisten tut die 1986 in der Ukraine geborene Autorin für ihre Figur, indem sie in Situationen der Ohnmacht und Machtlosigkeit Wege der Selbstermächtigung für Samira eröffnet. Lana Lux, die heute mit ihrer Familie in Berlin lebt und vor ihrer Karriere als Schriftstellerin Ernährungswissenschaften und Schauspiel studierte, hat Samira als ein Mädchen entworfen, das die Kraft in sich trägt, sich immer wieder zu befreien, auch wenn nach einer Flucht manchmal bereits die nächste Falle auf sie wartet. Samira gibt nicht auf. „Eben dafür liebe ich sie“, bekennt Lux und erzählt, wie sich die Figur praktisch selbst entworfen und damit das Thema des Buches vorgegeben hatte:
„Als Erstes war die Figur da. Es passierte während einer Schreibübung, die ich im Rahmen eines VHS Kurses zum Thema ‚Kinderbuch‘ besucht habe. Die Figur war innerhalb weniger Minuten sehr plastisch geworden und die wichtigsten Stationen ihres Lebens waren vor meinem inneren Auge vorgezeichnet gewesen. Ich war selbst überrascht, denn es passte natürlich keineswegs zu dem Thema des Kurses. Die Figur ließ mich nicht los. Ich begann nachzuforschen, schaute jegliche Reportagen, Dokumentationen und Spielfilme, die mit dem Thema Prostitution, Zwangsprostitution, Pädophilie, Gewalt gegen Frauen, Menschenhandel zu tun hatten. Es war wie eine doppelte Bewegung – eine innere, ausgehend von Samira, und eine äußere von mir, nach Informationen, Realität und Details suchend, um Samaras Geschichte für mich selbst zu prüfen und realitätsnah erzählen zu können.“
Das klingt, als habe Samira unbedingt eine Stimme bekommen wollen, als ob sie den Menschen sagen wollte: Ich bin da, hört mir zu! Während man über sie liest, ist sie eines ganz sicher nicht: ein Püppchen. Sie ist ein mutiges, starkes und fantasievolles Mädchen, das in einem trockenen unsentimentalen Ton davon erzählt, was manche Menschen anderen Menschen Schreckliches antun können, wenn sie glauben, sie seien ihnen überlegen und mehr wert als sie. Lana Lux hat gut daran getan, sie zu erschaffen.