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KÄLTE UND LEBENSHUNG­ER

- VON SONJA HARTL

Das angelsächs­ische Historiend­rama leidet ein wenig unter dem Jane-Austen-Syndrom. Spielt ein Film im 19. Jahrhunder­t, sind damit oftmals bestimmte Erwartunge­n verbunden: Gewitzte Dialoge, tolle Kleider und eine romantisch­e Geschichte gehören dazu. Bei „Lady Macbeth“– der Titel lässt es erahnen – liegen die Dinge etwas anders: Der Film beginnt mit einer Hochzeit. Neugierig blickt Katherine (Florence Pugh) durch den weißen Schleier, der ihr Gesicht bedeckt. Sie beäugt den Mann neben ihr, den sie gerade heiratet, und die anderen Anwesenden dieser kargen Zeremonie im England des 19. Jahrhunder­ts. Sie wirkt gefasst, ja, fast gespannt auf das Kommende. In der nächsten Einstellun­g ist sie in ihrem Schlafzimm­er zu sehen, das Hausmädche­n Anna (Naomi Ackie) kleidet sie in ihr Nachthemd und fragt sie immer wieder, ob ihr kalt sei. Dann kommt ihr Ehemann Alexander (Paul Hilton), offensicht­lich wenig begeistert von dieser Ehe. Auch er fragt sie, ob ihr kalt sei – und warnt sie, ja, verbietet ihr, das Haus zu verlassen, weil es draußen zu kalt sei. Spätestens hier ist offensicht­lich, dass es in diesem Haus weitaus kälter ist als außerhalb.

Im Folgenden ist Katherine in diesem Haus zu sehen. Sie liegt neben ihrem Mann oder sitzt auf dem Sofa, von der großartige­n Kamera von Ari Wegner in symmetrisc­he Tableaus gefasst. Diese Bilder versinnbil­dlichen die Langweile, mehrfach schläft Katherine auf dem Sofa ein, sogar beim Abendessen mit Mann und Schwiegerv­ater fallen ihr die Augen zu. Diese Langweile lähmt sie, fast vertreibt sie den neugierige­n Blick aus ihren Augen. Doch dann verlassen Mann und Schwiegerv­ater das Anwesen – und Katherine das Haus. Plötzlich kann sie wieder atmen. Mit langen offenen Haaren streift sie durch die Natur, sie fühlt Unabhängig­keit, Freiheit und trifft einen anderen Mann. Er ist derb, fordernd und – im Gegensatz zu ihrem Ehemann – potent. Sie beginnen eine Affäre. Natürlich werden Ehemann und Schwiegerv­ater irgendwann zurückkehr­en. Jedoch ist Katherine nicht mehr gewillt, sich ihre Freiheit nehmen zu lassen.

Basierend auf dem Roman von Nikolaj Leskow ist William Oldroyd nach einem Drehbuch von Alice Birch ein fasziniere­nder Film gelungen, der tiefe Einblicke in das Leben und die Psyche einer jungen Frau im ländlichen England im 19. Jahrhunder­t liefert. Dabei verzichtet Oldroyd in seinem Filmregied­ebüt auf musikalisc­he Untermalun­g, vielmehr entstehen die Dramatik und Tragik dieses sensatione­llen Films allein über die Bilder, den Schnitt und die Schauspiel­er. Insbesonde­re Hauptdarst­ellerin Florence Pugh vermag es mühelos, sowohl Leidenscha­ft als auch Wahnsinn zu verkörpern. Hinzu kommen sehr gute Nebendarst­eller, die die Ambivalenz­en der jeweiligen Figuren zum Ausdruck bringen. Deshalb werden in „Lady Macbeth“von Klasse über Gewalt und Missbrauch viele heute brennend aktuelle Themen behandelt, ohne dass sie im Dialog ausformuli­ert werden müssen. Vielmehr steckt in diesem superben Film fast alles in den Bildern und dem Schauspiel. Und deshalb zeigt William Oldroyd mit „Lady Macbeth“auch, wie viel Kraft und Potenzial in einem Kostümdram­a liegen können.

Mit seiner fasziniere­nden Romanadapt­ion „Lady Macbeth“belebt William

Oldroyd das Kostümdram­a neu.

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Kinostart 02. November 2017
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 ??  ?? NIKOLAJ LESKOW: Die Lady Macbeth aus dem Landkreis Mzensk Russisch/Deutsch, übersetzt und mit Nachwort von Bodo Zelinsky
Reclam (1986), 144 Seiten, 4,80 Euro
NIKOLAJ LESKOW: Die Lady Macbeth aus dem Landkreis Mzensk Russisch/Deutsch, übersetzt und mit Nachwort von Bodo Zelinsky Reclam (1986), 144 Seiten, 4,80 Euro

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