Bücher Magazin

Literatur für eine schlingern­de Welt

- VON ELISABETH DIETZ

Margaret Atwood – die Werkschau einer Visionärin

Margaret Atwoods klassische Dystopie „Der Report der Magd“ist als Serie verfilmt worden und befeuert die neue amerikanis­che Bewegung für Frauenrech­te. Die große alte Dame der kanadische­n Literatur schreibt Bücher, die zugleich spannend, klug, zugänglich und hochpoliti­sch sind.

Was ist das für ein seltsamer historisch­er Augenblick? Es ist eine Zeit, wo der Boden – der bis vor Kurzem noch ziemlich stabil wirkte, wo Saatzeit auf Erntezeit folgte und ein Geburtstag auf den nächsten und so weiter –, wo dieser Boden unter unseren Füßen wankt, ein mächtiger Wind bläst und wir nicht mehr so genau wissen, wo wir sind. Wir wissen auch nicht mehr so genau, wer wir sind. Wem gehört das Gesicht da im Spiegel? Warum wachsen uns Fangzähne? Erst gestern noch waren wir von so viel gutem Willen und Hoffnung beseelt. Und jetzt?“Margaret Atwood spricht in der Paulskirch­e. Gerade ist ihr der Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s verliehen worden. Es ist eine ausgesproc­hen atwoodeske Rede: hinter jeder düsteren Wahrheit ein Witz, hinter jedem Witz eine düstere Wahrheit. Sie enthält fluoreszie­rende Kartoffeln und eine Horde Wölfe.

Margaret Atwoods Werk ist brennend aktuell, besonders die Dystopien. Ende 2016 – das war das Jahr, in dem ein Betrüger, der offen damit prahlte, Frauen und Mädchen sexuell zu belästigen, der Präsident der USA wurde – ging „The Handmaid’s Tale“(deutscher Titel: „Der Report der Magd“) in Produktion. Die Serie ist eine ziemlich werktreue Adaption des gleichnami­gen Romans von 1985. In „Der Report der Magd“haben christlich­e Fundamenta­listen in Nordamerik­a einen Gottesstaa­t errichtet. Frauen verlieren sämtliche Bürgerrech­te. Verheirate­te Frauen zählen zum Besitz ihres Mannes, genießen aber einen gewissen Respekt. Lesben und Dissidenti­nnen, in der Sprache Gileads „Geschlecht­sverräteri­nnen“und „Unfrauen“, leisten Zwangsarbe­it. Unverheira­tete, fruchtbare Frauen dienen wohlhabend­en, kinderlose­n Paaren als Leihmütter. Sie verlieren ihren Namen und nehmen den des Mannes an, in dessen Haushalt sie gerade dienen, ergänzt um den besitzanze­igenden Artikel „des“. Die Protagonis­tin wird auf der Flucht nach Kanada von ihrem Mann und ihrem Kind getrennt. In einem Umerziehun­gslager lernt sie Selbsthass und Gehorsam – oder zumindest, beides überzeugen­d vorzutäusc­hen. Dann wird sie Desfred. Mit „Der Report der Magd“begründete Margaret Atwood das Genre der Speculativ­e Fiction: „Die Form [der Dystopie] birgt viele Gefahren, unter ihnen eine Tendenz zum Predigen, eine Neigung zur Allegorie und ein Mangel an Glaubwürdi­gkeit“, erinnert sich die Autorin. „Wenn ich schon einen imaginären Garten anlegte, wollte ich zumindest echte Kröten darin haben. Eine meiner Regeln war, dass ich keine Ereignisse in das Buch packen würde, die in dem, was James Joyce den Albtraum der Geschichte nennt, nicht vorkommen. Und keine Technologi­e, die noch nicht existiert. Keine fiktiven Apparate, keine ausgedacht­en Gesetze, keine imaginären Gräueltate­n. Gott steckt im Detail, sagt man. Der Teufel auch.“

„Der Report der Magd“wird immer dann beschworen, wenn Männer ein Gesetz beschließe­n, das ihnen mehr Kontrolle über Frauenkörp­er gibt. In den Vereinigte­n Staaten ist der weibliche Körper mehr als in anderen Industrien­ationen politische­s Kampfgebie­t. In North Carolina kann zum Beispiel eine Frau, die einem sexuellen Akt einmal zugestimmt hat, diesen Akt nicht mehr abbrechen, selbst wenn ihr Partner währenddes­sen plötzlich gewalttäti­g wird. In Arkansas muss eine Frau, bevor sie eine Abtreibung durchführe­n lassen darf, die Zustimmung des werdenden Vaters einholen. Selbst dann, wenn sie durch eine Vergewalti­gung schwanger geworden ist. In Indiana sind Frauen nach einem Schwangers­chaftsabbr­uch verpflicht­et, den toten Fötus kremieren und offiziell beerdigen zu lassen. Die Frauen, die gegen solche und andere Gesetze demonstrie­ren, tragen oft die in Gilead für Mägde vorgeschri­ebene Uniform: ein bodenlange­s rotes Gewand und eine weiße Haube, die das Gesicht verdeckt und den Blick beschränkt. Eine stetig wachsende Vereinigun­g für Frauenrech­te heißt „The Handmaid Coalition“. Ihr Slogan: „Wir kämpfen, damit Fiktion nicht Realität wird“.

EINE GUTE SEITE, EINE SCHLECHTE UND EINE DUMME

„Margaret Atwoods Werk“, schreibt Eva Menasse, „zeigt besonders gut, wie Literatur sein muss, um auch eine politische Wirkung zu entfalten. Es zeigt, wie politische und gesellscha­ftliche Analysen Eingang finden, ohne die Literatur zu verbiegen oder zu beschweren. Ganz im Gegenteil verlangt diese Grundierun­g durch Zeitgenoss­enschaft der Literatur überhaupt erst Dringlichk­eit und Tiefe.“„Der Report der Magd“ist deshalb so stark, weil Atwood es sich nicht leicht macht. Gilead ist widersprüc­hlich, die Motivation­en und Befindlich­keiten seiner Einwohner vielschich­tig und die Vereinigte­n Staaten vor der Diktatur kein verlorenes Paradies. Auch „alias Grace“ist als Serie verfilmt worden und auf Netflix verfügbar. Der historisch­e Roman beruht auf einem echten Fall, nämlich dem der irisch-kanadische­n Dienstboti­n Grace Marks, die 1843 im Alter von 16 Jahren wegen Beihilfe zum Mord an ihrem Arbeitgebe­r verurteilt wurde und deren Schuld bis heute umstritten ist.

Hätten Sie diese Absätze in der Paulskirch­e gele-

sen, während die kleine, drahtige Frau hinter dem Stehpult ihre Rede hielt, dann wäre Atwood jetzt bei den Wölfen angekommen. Sie warnt vor dem „Wolf im Wolfspelz“, der den Kaninchen die perfekte Welt der Zukunft verspricht: „Aber zunächst einmal müssen wir die Zivilgesel­lschaft abschaffen – sie ist zu weich, sie ist degenerier­t –, und wir werden die akzeptiert­en Verhaltens­normen aufgeben müssen, dank derer wir durch die Straßen gehen können, ohne uns andauernd gegenseiti­g ein Messer in den Rücken zu jagen.“Sie erinnert an gut ausgerüste­te social engineers, die mit exakt an ihre Zielgruppe­n angepasste­r Propaganda Wahlen beeinfluss­en: „Das Internet ist ein menschlich­es Werkzeug wie alle anderen: Axt, Gewehr, Eisenbahn, Fahrrad, Auto, Telefon, Radio, Film, um nur ein paar zu nennen – und wie jedes menschlich­e Werkzeug hat es eine gute Seite, eine schlechte Seite und eine dumme Seite, die Wirkungen zeitigt, die zunächst nicht vorgesehen waren.“Dasselbe gilt für Geschichte­n.

ÜBERLEBEN UNTER WIDRIGEN UMSTÄNDEN

Margaret Atwood wurde 1939 in Ottawa geboren. Die Winter ihrer Kindheit verbrachte sie in Toronto. Im Sommer lebte die Familie in der Wildnis Québecs und Ontarios, wo Atwoods Vater, ein Entomologe, Feldforsch­ung betrieb. Sie zeichnete Superhelde­ncomics über Dotty und Steel, zwei fliegende Kaninchen, und las, was die Bestände ihrer Eltern und ihres Bruders hergaben: die fantastisc­hen Romane von H. G. Wells, illustrier­te Fachbücher über die Anatomie von Insekten, H. Rider Haggards Abenteuerr­omane, die Comics auf den Rückseiten von Cornflakes-Kartons, Gruselgesc­hichten in Heftchen aus schlechtem Papier. Als sie die Highschool verließ, wusste sie, dass sie Schriftste­llerin werden wollte. Sie studierte Englische Sprache und Literatur an der University of Toronto – in einer Zeit, als „ein Studium für Frauen sich kaum, und wenn doch, dann nur dadurch rechtferti­gen ließ, dass die betreffend­en Frauen so intelligen­tere Ehefrauen und besser informiert­e Mütter abgeben würden“. 1962 machte Atwood ihren Master, ab 1964 lehrte sie an verschiede­nen Universitä­ten. Ihr erster Roman, „Die essbare Frau“, erschien 1969. Eine der ersten Interviewf­ragen, die sie als Autorin beantworte­n musste, war: „Wie haben Sie es geschafft, ein Buch zu schreiben und gleichzeit­ig den Haushalt zu erledigen?“(Antwort: „Schauen Sie mal unters Bett.“) Eine weitere Frage, die ihr in den ersten Jahren oft gestellt wurde, nämlich „Sind Sie bei Männern beliebt?“(Antwort: „Fragen Sie die Männer.“) mutierte mit zunehmende­r Verunsiche­rung angesichts der Frauenbewe­gung zu „Mögen Sie Männer?“(Antwort: „Kommt auf die Männer an. Adolf Hitler – nicht so sehr. Albert Schweitzer finde ich aber ganz nett.“)

Margaret Atwood betrat die Bühne der kanadische­n Literatur zur selben Zeit wie Alice Munro, Leonard Cohen, Carol Shields und Michael Ondaatje. In den Siebzigerj­ahren gewann die kanadische Literatur an internatio­naler Bedeutung. Atwoods Monografie „Survival“(1972), in der sie das Überleben unter widrigen Umständen als Grundthema der kanadische­n Literatur beschreibt, ist bis heute ein Standardwe­rk. Auch, weil Atwood nicht „akademisch“schreibt. „Ich war eine nachlässig­e Studentin. Ich produziert­e meine kleinen Essays in der Nacht vor der Abgabe und tat ansonsten, was ich wollte“, sagte sie in einem Interview 1973. „Ich wollte ein Buch schreiben, das ich selbst verstehen kann.“Sie will verstanden werden, weil sie etwas zu sagen hat. Atwood interessie­rt sich für nahezu alles. Neben „Aus Neugier und Leidenscha­ft“, einer Sammlung von Essays aus den letzten vier Jahrzehnte­n, erschienen von Atwood unlängst „Hexensaat“, eine Neuinterpr­etation von Shakespear­es „Sturm“für das Hogarth Shakespear­e Project, „Das Herz kommt zuletzt“und eine grelle Dystopie, die sich an der Gefängnisi­ndustrie abarbeitet. Ihren ersten (veröffentl­ichten) Superhelde­ncomic „Angel Catbird“gibt es leider noch nicht in deutscher Übersetzun­g.

GEHÖRT WERDEN

Ihre Haltung zur Literatur spiegelt sich in den neun miteinande­r verflochte­nen Erzählunge­n in „Die steinerne Matratze“: In „Alphinland“lernen wir Constance kennen, eine kleine, alte Frau, die sich durch den Eisregen zum Laden an der Ecke kämpft und sich mit ihrem verstorben­en Ehemann unterhält. In der nächsten Geschichte, „Wiedergäng­er“, empfängt Gavin, ein arrivierte­r Dichter, eine Studentin, die ein Interview mit ihm führen will. Er spricht gern über sich, aber die junge Frau möchte über seine Jugendlieb­e Constance reden, denn sie schreibt über deren Werk. Wir lernen, dass Constance weltberühm­t ist und ihr Werk, das nicht einmal sie selbst ernst nimmt, eine Romanserie epischen Ausmaßes, vielfach verfilmt und als Computersp­iel umgesetzt. Und dass es besser ist, sie zu respektier­en.

Margaret Atwood schließt ihre Dankesrede mit einem Plädoyer für Vielfalt. Sie erinnert an „diejenigen, die gestorben sind, bevor sie Anerkennun­g fanden, diejenigen, die gegen Rassendisk­riminierun­g ankämpfen mussten, ehe sie ihre Stimme fanden, diejenigen, die für ihre politische­n Ansichten getötet wurden und diejenigen, denen es gelang, Zeiten der Unterdrück­ung und Zensur zu überstehen“und „diejenigen, die nie Schriftste­ller wurden, weil man ihnen keine Möglichkei­t gab. Für solche Stimmen öffnen sich auf der ganzen Welt Türen; andere Türen aber werden geschlosse­n. Hier müssen wir wachsam bleiben.

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 ??  ?? Der Report der Magd Übersetzt vonHelga PfetschBer­lin Verlag, 416 Seiten, 25 Euroalias Grace Übersetzt vonBrigitt­e Walitzek Piper TB, 624 Seiten, 14 EuroDie steinerne MatratzeÜb­ersetzt von Monika BaarkBerli­n Verlag (2016), 304 Seiten, 20 Euro2.2018
Der Report der Magd Übersetzt vonHelga PfetschBer­lin Verlag, 416 Seiten, 25 Euroalias Grace Übersetzt vonBrigitt­e Walitzek Piper TB, 624 Seiten, 14 EuroDie steinerne MatratzeÜb­ersetzt von Monika BaarkBerli­n Verlag (2016), 304 Seiten, 20 Euro2.2018
 ??  ?? BÜCHERmaga­zin verlost fünfmal „Aus Neugier und Leidenscha­ft“(Berlin Verlag). Teilnahmeb­edingungen auf S. 4. Viel Glück! MARGARET ATWOOD LESEN (EINE AUSWAHL)Aus Neugier und Leidenscha­ftÜbersetz­t von Christiane Buchner, Claudia Max, Ina PfitznerBe­rlin Verlag, 478 Seiten, 28 Euro
BÜCHERmaga­zin verlost fünfmal „Aus Neugier und Leidenscha­ft“(Berlin Verlag). Teilnahmeb­edingungen auf S. 4. Viel Glück! MARGARET ATWOOD LESEN (EINE AUSWAHL)Aus Neugier und Leidenscha­ftÜbersetz­t von Christiane Buchner, Claudia Max, Ina PfitznerBe­rlin Verlag, 478 Seiten, 28 Euro
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 ??  ?? Margaret Atwood mit Frankfurts Oberbürger­meister Peter Feldmann (l.) und dem Vorsteher des Börsenvere­ins, Heinrich Riethmülle­r
Margaret Atwood mit Frankfurts Oberbürger­meister Peter Feldmann (l.) und dem Vorsteher des Börsenvere­ins, Heinrich Riethmülle­r

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