Literatur für eine schlingernde Welt
Margaret Atwood – die Werkschau einer Visionärin
Margaret Atwoods klassische Dystopie „Der Report der Magd“ist als Serie verfilmt worden und befeuert die neue amerikanische Bewegung für Frauenrechte. Die große alte Dame der kanadischen Literatur schreibt Bücher, die zugleich spannend, klug, zugänglich und hochpolitisch sind.
Was ist das für ein seltsamer historischer Augenblick? Es ist eine Zeit, wo der Boden – der bis vor Kurzem noch ziemlich stabil wirkte, wo Saatzeit auf Erntezeit folgte und ein Geburtstag auf den nächsten und so weiter –, wo dieser Boden unter unseren Füßen wankt, ein mächtiger Wind bläst und wir nicht mehr so genau wissen, wo wir sind. Wir wissen auch nicht mehr so genau, wer wir sind. Wem gehört das Gesicht da im Spiegel? Warum wachsen uns Fangzähne? Erst gestern noch waren wir von so viel gutem Willen und Hoffnung beseelt. Und jetzt?“Margaret Atwood spricht in der Paulskirche. Gerade ist ihr der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen worden. Es ist eine ausgesprochen atwoodeske Rede: hinter jeder düsteren Wahrheit ein Witz, hinter jedem Witz eine düstere Wahrheit. Sie enthält fluoreszierende Kartoffeln und eine Horde Wölfe.
Margaret Atwoods Werk ist brennend aktuell, besonders die Dystopien. Ende 2016 – das war das Jahr, in dem ein Betrüger, der offen damit prahlte, Frauen und Mädchen sexuell zu belästigen, der Präsident der USA wurde – ging „The Handmaid’s Tale“(deutscher Titel: „Der Report der Magd“) in Produktion. Die Serie ist eine ziemlich werktreue Adaption des gleichnamigen Romans von 1985. In „Der Report der Magd“haben christliche Fundamentalisten in Nordamerika einen Gottesstaat errichtet. Frauen verlieren sämtliche Bürgerrechte. Verheiratete Frauen zählen zum Besitz ihres Mannes, genießen aber einen gewissen Respekt. Lesben und Dissidentinnen, in der Sprache Gileads „Geschlechtsverräterinnen“und „Unfrauen“, leisten Zwangsarbeit. Unverheiratete, fruchtbare Frauen dienen wohlhabenden, kinderlosen Paaren als Leihmütter. Sie verlieren ihren Namen und nehmen den des Mannes an, in dessen Haushalt sie gerade dienen, ergänzt um den besitzanzeigenden Artikel „des“. Die Protagonistin wird auf der Flucht nach Kanada von ihrem Mann und ihrem Kind getrennt. In einem Umerziehungslager lernt sie Selbsthass und Gehorsam – oder zumindest, beides überzeugend vorzutäuschen. Dann wird sie Desfred. Mit „Der Report der Magd“begründete Margaret Atwood das Genre der Speculative Fiction: „Die Form [der Dystopie] birgt viele Gefahren, unter ihnen eine Tendenz zum Predigen, eine Neigung zur Allegorie und ein Mangel an Glaubwürdigkeit“, erinnert sich die Autorin. „Wenn ich schon einen imaginären Garten anlegte, wollte ich zumindest echte Kröten darin haben. Eine meiner Regeln war, dass ich keine Ereignisse in das Buch packen würde, die in dem, was James Joyce den Albtraum der Geschichte nennt, nicht vorkommen. Und keine Technologie, die noch nicht existiert. Keine fiktiven Apparate, keine ausgedachten Gesetze, keine imaginären Gräueltaten. Gott steckt im Detail, sagt man. Der Teufel auch.“
„Der Report der Magd“wird immer dann beschworen, wenn Männer ein Gesetz beschließen, das ihnen mehr Kontrolle über Frauenkörper gibt. In den Vereinigten Staaten ist der weibliche Körper mehr als in anderen Industrienationen politisches Kampfgebiet. In North Carolina kann zum Beispiel eine Frau, die einem sexuellen Akt einmal zugestimmt hat, diesen Akt nicht mehr abbrechen, selbst wenn ihr Partner währenddessen plötzlich gewalttätig wird. In Arkansas muss eine Frau, bevor sie eine Abtreibung durchführen lassen darf, die Zustimmung des werdenden Vaters einholen. Selbst dann, wenn sie durch eine Vergewaltigung schwanger geworden ist. In Indiana sind Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch verpflichtet, den toten Fötus kremieren und offiziell beerdigen zu lassen. Die Frauen, die gegen solche und andere Gesetze demonstrieren, tragen oft die in Gilead für Mägde vorgeschriebene Uniform: ein bodenlanges rotes Gewand und eine weiße Haube, die das Gesicht verdeckt und den Blick beschränkt. Eine stetig wachsende Vereinigung für Frauenrechte heißt „The Handmaid Coalition“. Ihr Slogan: „Wir kämpfen, damit Fiktion nicht Realität wird“.
EINE GUTE SEITE, EINE SCHLECHTE UND EINE DUMME
„Margaret Atwoods Werk“, schreibt Eva Menasse, „zeigt besonders gut, wie Literatur sein muss, um auch eine politische Wirkung zu entfalten. Es zeigt, wie politische und gesellschaftliche Analysen Eingang finden, ohne die Literatur zu verbiegen oder zu beschweren. Ganz im Gegenteil verlangt diese Grundierung durch Zeitgenossenschaft der Literatur überhaupt erst Dringlichkeit und Tiefe.“„Der Report der Magd“ist deshalb so stark, weil Atwood es sich nicht leicht macht. Gilead ist widersprüchlich, die Motivationen und Befindlichkeiten seiner Einwohner vielschichtig und die Vereinigten Staaten vor der Diktatur kein verlorenes Paradies. Auch „alias Grace“ist als Serie verfilmt worden und auf Netflix verfügbar. Der historische Roman beruht auf einem echten Fall, nämlich dem der irisch-kanadischen Dienstbotin Grace Marks, die 1843 im Alter von 16 Jahren wegen Beihilfe zum Mord an ihrem Arbeitgeber verurteilt wurde und deren Schuld bis heute umstritten ist.
Hätten Sie diese Absätze in der Paulskirche gele-
sen, während die kleine, drahtige Frau hinter dem Stehpult ihre Rede hielt, dann wäre Atwood jetzt bei den Wölfen angekommen. Sie warnt vor dem „Wolf im Wolfspelz“, der den Kaninchen die perfekte Welt der Zukunft verspricht: „Aber zunächst einmal müssen wir die Zivilgesellschaft abschaffen – sie ist zu weich, sie ist degeneriert –, und wir werden die akzeptierten Verhaltensnormen aufgeben müssen, dank derer wir durch die Straßen gehen können, ohne uns andauernd gegenseitig ein Messer in den Rücken zu jagen.“Sie erinnert an gut ausgerüstete social engineers, die mit exakt an ihre Zielgruppen angepasster Propaganda Wahlen beeinflussen: „Das Internet ist ein menschliches Werkzeug wie alle anderen: Axt, Gewehr, Eisenbahn, Fahrrad, Auto, Telefon, Radio, Film, um nur ein paar zu nennen – und wie jedes menschliche Werkzeug hat es eine gute Seite, eine schlechte Seite und eine dumme Seite, die Wirkungen zeitigt, die zunächst nicht vorgesehen waren.“Dasselbe gilt für Geschichten.
ÜBERLEBEN UNTER WIDRIGEN UMSTÄNDEN
Margaret Atwood wurde 1939 in Ottawa geboren. Die Winter ihrer Kindheit verbrachte sie in Toronto. Im Sommer lebte die Familie in der Wildnis Québecs und Ontarios, wo Atwoods Vater, ein Entomologe, Feldforschung betrieb. Sie zeichnete Superheldencomics über Dotty und Steel, zwei fliegende Kaninchen, und las, was die Bestände ihrer Eltern und ihres Bruders hergaben: die fantastischen Romane von H. G. Wells, illustrierte Fachbücher über die Anatomie von Insekten, H. Rider Haggards Abenteuerromane, die Comics auf den Rückseiten von Cornflakes-Kartons, Gruselgeschichten in Heftchen aus schlechtem Papier. Als sie die Highschool verließ, wusste sie, dass sie Schriftstellerin werden wollte. Sie studierte Englische Sprache und Literatur an der University of Toronto – in einer Zeit, als „ein Studium für Frauen sich kaum, und wenn doch, dann nur dadurch rechtfertigen ließ, dass die betreffenden Frauen so intelligentere Ehefrauen und besser informierte Mütter abgeben würden“. 1962 machte Atwood ihren Master, ab 1964 lehrte sie an verschiedenen Universitäten. Ihr erster Roman, „Die essbare Frau“, erschien 1969. Eine der ersten Interviewfragen, die sie als Autorin beantworten musste, war: „Wie haben Sie es geschafft, ein Buch zu schreiben und gleichzeitig den Haushalt zu erledigen?“(Antwort: „Schauen Sie mal unters Bett.“) Eine weitere Frage, die ihr in den ersten Jahren oft gestellt wurde, nämlich „Sind Sie bei Männern beliebt?“(Antwort: „Fragen Sie die Männer.“) mutierte mit zunehmender Verunsicherung angesichts der Frauenbewegung zu „Mögen Sie Männer?“(Antwort: „Kommt auf die Männer an. Adolf Hitler – nicht so sehr. Albert Schweitzer finde ich aber ganz nett.“)
Margaret Atwood betrat die Bühne der kanadischen Literatur zur selben Zeit wie Alice Munro, Leonard Cohen, Carol Shields und Michael Ondaatje. In den Siebzigerjahren gewann die kanadische Literatur an internationaler Bedeutung. Atwoods Monografie „Survival“(1972), in der sie das Überleben unter widrigen Umständen als Grundthema der kanadischen Literatur beschreibt, ist bis heute ein Standardwerk. Auch, weil Atwood nicht „akademisch“schreibt. „Ich war eine nachlässige Studentin. Ich produzierte meine kleinen Essays in der Nacht vor der Abgabe und tat ansonsten, was ich wollte“, sagte sie in einem Interview 1973. „Ich wollte ein Buch schreiben, das ich selbst verstehen kann.“Sie will verstanden werden, weil sie etwas zu sagen hat. Atwood interessiert sich für nahezu alles. Neben „Aus Neugier und Leidenschaft“, einer Sammlung von Essays aus den letzten vier Jahrzehnten, erschienen von Atwood unlängst „Hexensaat“, eine Neuinterpretation von Shakespeares „Sturm“für das Hogarth Shakespeare Project, „Das Herz kommt zuletzt“und eine grelle Dystopie, die sich an der Gefängnisindustrie abarbeitet. Ihren ersten (veröffentlichten) Superheldencomic „Angel Catbird“gibt es leider noch nicht in deutscher Übersetzung.
GEHÖRT WERDEN
Ihre Haltung zur Literatur spiegelt sich in den neun miteinander verflochtenen Erzählungen in „Die steinerne Matratze“: In „Alphinland“lernen wir Constance kennen, eine kleine, alte Frau, die sich durch den Eisregen zum Laden an der Ecke kämpft und sich mit ihrem verstorbenen Ehemann unterhält. In der nächsten Geschichte, „Wiedergänger“, empfängt Gavin, ein arrivierter Dichter, eine Studentin, die ein Interview mit ihm führen will. Er spricht gern über sich, aber die junge Frau möchte über seine Jugendliebe Constance reden, denn sie schreibt über deren Werk. Wir lernen, dass Constance weltberühmt ist und ihr Werk, das nicht einmal sie selbst ernst nimmt, eine Romanserie epischen Ausmaßes, vielfach verfilmt und als Computerspiel umgesetzt. Und dass es besser ist, sie zu respektieren.
Margaret Atwood schließt ihre Dankesrede mit einem Plädoyer für Vielfalt. Sie erinnert an „diejenigen, die gestorben sind, bevor sie Anerkennung fanden, diejenigen, die gegen Rassendiskriminierung ankämpfen mussten, ehe sie ihre Stimme fanden, diejenigen, die für ihre politischen Ansichten getötet wurden und diejenigen, denen es gelang, Zeiten der Unterdrückung und Zensur zu überstehen“und „diejenigen, die nie Schriftsteller wurden, weil man ihnen keine Möglichkeit gab. Für solche Stimmen öffnen sich auf der ganzen Welt Türen; andere Türen aber werden geschlossen. Hier müssen wir wachsam bleiben.