Es ist kompliziert
Vier Graphic Novels
Das Leben. Grotesk, ungerecht und kurz, schmerzlich schön und unbedingt begehrenswert.
VERSUCH ÜBER DIE LIEBE
Ulli Lust hat einen zweiten autobiografischen Comic herausgebracht, und er ist großartig. „Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein“spielt fünf Jahre nach „Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens“(Avant, 2009). Ulli Lust ist 23 und versucht, sich in Wien eine Existenz als Künstlerin aufzubauen. Ihren kleinen Sohn, der bei seinen Großeltern wohnt, sieht sie jedes Wochenende. Sie liebt Georg, der ihr Geborgenheit und interessante Gedanken gibt. Nur sexuell passen die beiden überhaupt nicht zusammen. Eines Tages schlägt er vor, die Beziehung zu öffnen. Im Park trifft Ulli Kimata, einen Einwanderer aus Nigeria. Die Weltanschauungen, Interessen und Hintergründe der beiden könnten verschiedener nicht sein, aber im Bett verstehen sie sich blind. Ulli versucht, mit beiden Männern zu leben. Ohne Lügen oder Illusionen, mit Sex, Solidarität und guten Gesprächen. Das Experiment scheitert an kulturellen Differenzen, populären Mythen über Liebe und Besitz und an dem, was wir toxische Männlichkeit nennen. Die Autorin erzählt intensiv und präzise. Kleinteilige Panels mit klugen Dialogen werden an Schlüsselstellen von starken, ganzseitigen Bildern unterbrochen. Dieses kluge und ausgesprochen schöne Buch gehört sowohl dem Diskurs um die Ethik der Liebe als auch dem sexuellen Exzess, der Gewalt und einem großen, weiten, wunderbaren Lebenshunger.
IMMER ANDERS
Nach ihrem fabelhaften Coming-of-Age-Roman „Sommer am See“legt die kanadische Comickünstlerin und Illustratorin Jillian Tamaki, diesmal ohne ihre Cousine Mariko, einen Band mit Kurzgeschichten vor. Was die Erzählungen eint, ist allein ihre Seltsamkeit. Für jede verwendet Tamaki einen anderen Zeichenstil und eine andere Erzählweise. Die starken, dunklen Bilder, mit denen sie für „Das ClairFreeSystem“ein Hautcreme-Verkaufsgespräch unterlegt, machen deutlich, dass es hier um sehr viel mehr geht als Schönheit und Konsum, nämlich darum, was man für seine Familie zu tun bereit ist – in diesem Fall: das Gegenüber für ein zweifelhaftes Schneeballsystem à la Avon anwerben – und welche ökonomischen Zwänge Mütter navigieren. In „SexCoven“geht es um einen geheimnisvollen Track, der Töne enthält, die nur Jugendliche hören können und der sie dazu bringt, nachts durch die Wälder zu streifen und entrückt zu kopulieren. In „Body Pods“kommen die Hauptdarsteller einer bei Teenagern beliebten Filmreihe nacheinander aus ungeklärten Gründen ums Leben, während die Ich-Erzählerin von „Halbwertszeit“allmählich immer kleiner wird und schließlich ganz in der Welt aufgeht. Jillian Tamaki erzählt Alltagsgeschichten, die sich ins Absurde drehen und den Blick auf die Welt ganz leicht verschieben.