Interpretationssache: ein Gedicht
Für das BÜCHERmagazin ist Dr. Björn Hayer stets auf der Suche nach der poetischen Kunst des Augenblicks und interpretiert in jeder Ausgabe ein ausgewähltes Gedicht.
„ICH DANKE DIR FÜR ALLES. / ICH GEBE MICH PARIS HIN“
Impulsiv, immer aus dem Vollen schöpfend – so liest sich Gabriele Glangs Lyrikband „Göttertage“, der eine ganz besondere Frau in den Mittelpunkt stellt: die Malerin Paula Modersohn-Becker. Im Jahr 1907 starb die Expressionistin mit nur 31 Jahren. Hinter ihr liegen das ausschweifende Dasein der Bohème, Freundschaftsbünde, etwa zu Rilke, stille Tage in Worpswede, schlaflose Nächte vor zu füllenden Leinwänden und nicht zuletzt die Trennung von ihrem Ehemann Otto. Sensibel schreibt sich die seit 1990 in Geisslingen wohnende Poetin Glang in das Innere einer faszinierenden Frau vor und entwirft ein so lakonisches wie intimes Gedicht über den Abschied Paulas von ihrem Gatten: „Versuche ins Auge zu fassen, / dass unsre Wege sich scheiden. // Ich danke dir für alles. / Ich gebe mich Paris hin.“Dort erwartet sie „unentwegte[s] Brausen“, pures Leben mit viel Farbe. Dabei gleicht das Fortgehen keinem Vergessen. Die verschiedenen Appelle legen dar, dass es noch einen Glutkern gibt, selbst wenn er sich gerade nicht wieder entfachen lässt. Alle Stabilität aufgebend, zieht die Künstlerin nun in die Welt hinaus, die, wie die Ellipse „Wenn nur kein Regen kommt“zeigt, eine ungewisse Zukunft bereithält. „Scheideweg“ist ein starker Text über eine starke Frau und eine Hommage auf die Liebe, welche ohne Widersprüche, Hoffnungen und Verzweiflungen nicht sein kann.