Hüterinnen der Jahrzehnte
Ein Besuch bei Carmen Korn
Carmen Korn stürmte mit den ersten beiden Romanbänden ihrer Jahrhundert-Trilogie um vier Hamburger Freundinnen die Bestsellerlisten. Sie empfängt uns beim Schreiben ihres dritten Bandes zu Hause im Arbeitszimmer. Ein Gespräch über Frauengenerationen, Familienbande und das Besondere einer vergangenen Zeit.
Nach „Töchter einer neuen Zeit“und „Zeiten des Aufbruchs“folgt im September der dritte Teil Ihrer Jahrhundert-Trilogie. Ein Mammut-Werk – Sie begleiten vier Hamburger Frauen durch zwei Weltkriege und 100 Jahre Deutschland. Sie haben die Hörbücher selbst eingesprochen. War das schwierig?
Nein überhaupt nicht. Wenn ich schreibe, dann höre ich auch meine Dialoge, es findet ein Kopfkino statt. Ich habe immer filmisch geschrieben, vom ersten Buch an. Ich drehe die Szenen in der Akustik mit. Insofern war es für mich völlig vertraut, diese Dialoge zu sprechen. Wenn ich etwas geschrieben habe, lese ich das oft laut, um noch einmal ein richtiges Gefühl für die Sprache zu bekommen.
Mögen Sie Ihre Stimme?
Ja. Ich hatte schon als junges Mädchen eine tiefe Stimme. Hängt sicherlich auch damit zusammen, dass ich groß bin. Als Random House mich dann aber gefragt hat, ob ich meine Bücher selbst einlese, war ich anfangs verlegen.
Warum?
Weil man ja normalerweise bekannte Sprecher nimmt. Mit Wolfgang Stockmann hatte ich einen sehr erfahrenen Regisseur an der Seite. Wir haben uns zwar immer in den Haaren gelegen, wenn er gekürzt hat. Das ist das nackte Grauen für einen Autor. Ich habe einen leichten Nervenzusammenbruch bekommen … aber am Ende war alles wunderbar.
Wann entstand die Idee zu Ihrer Jahrhundert-Trilogie?
Eigentlich hatte sich das alles jahrzehntelang in meinem geistigen Fundus gesammelt und ich hatte kurze Notizen dazu gemacht. Als ich dann vor vier Jahren über das eigene Älterwerden nachdachte, fragte ich mich: Willst du wirklich deine späten Jahre damit verbringen, irgendwelche Mordkomplotts zu entwickeln? Ich habe ja Krimis geschrieben. Plötzlich kam der Gedanke: Es wird mal Zeit, die Geschichte deiner Großmütter und Mütter zu erzählen. So entstand das.
Wurde in Ihrer Familie viel erzählt?
Oh ja, sehr viel. Ich sammelte schon damals die Familiengeschichten bei unseren Treffen. Es wurde sich regelmäßig getroffen zu Kaffee und Kuchen, später dann Schnäpsken getrunken und die Stimmung wurde immer heiterer, während ich unterm Tisch saß. Da wurde frei von der Leber weg über die guten und die schlechten Seiten der 20er-, 30erund 40er-Jahre gesprochen.
Worüber hat Ihre Familie gesprochen?
Gerade meine mütterliche Linie konnte von den Nazi-Zeiten berichten, weil das Sozialdemokraten waren, die nach dem Krieg nicht das Gefühl hatten, dass sie sich verstecken mussten mit ihrer Haltung. Natürlich gab es auch viele Inspirationen von außen.
Also durchaus auch von Freunden und Fremden?
Ja. Ich bin in Köln aufgewachsen und 1975 nach Hamburg gekommen, da war ich 22. Das Hamburg der 70er-Jahre war nicht das Hamburg, was wir heute kennen. Es war spröder, herber. Ich habe mich erst schwergetan mit Hamburg, aber schnell entwickelte ich eine Liebe zur Stadt und ganz besonders zu Uhlenhorst, dem Stadtteil, wo mein Roman angesiedelt ist. In meiner ersten Zeit in Hamburg ging ich viel mit meinem Hund spazieren und kam mit anderen Hundemenschen ins Gespräch. Ich war eine neue und neugierige Frau in der Nachbarschaft und meine Mitmenschen haben erzählt, wie das damals alles war. Natürlich ist einiges fiktiv im Roman, aber es fließt durchaus vieles von Menschen ein, die mir begegnet sind, auch von mir selbst.
Was zum Beispiel?
Henny, eine der Hauptfiguren im Buch, ist ununterbrochen mit ihrer Mutter Else beschäftigt. Else steht für eine ganze Frauengeneration. Sie war Kriegerwitwe und ging selbstverständlich davon aus, dass ihre Tochter sich nun den Rest ihres Lebens um sie kümmert. Nie war etwas gut genug, immer wurde genörgelt. Sie steht für Frauen mit einem gewissen Dünkel, die selbstverständlich etwas für sich einfordern. Ich glaube, dass meine Großmutter so eine Macht über meine Mutter hatte, da habe ich mich inspirieren lassen. Und es gibt Sätze wie „Man kann dir überhaupt nichts sagen, du bist ja so empfindlich, aber so warst du immer schon“. Das habe ich von meiner Mutter übernommen. Auf der anderen Seite muss man natürlich hervorheben: Diese Frauengeneration ist enorm. Was haben sie alles erlitten, was haben sie alles aufgebaut.
In Band 1 „Töchter einer neuen Zeit“beschreiben Sie die Goldenen Zwanziger bis zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, Band 2 „Zeiten des Aufbruchs“widmet sich der deutschen Nachkriegszeit im zerstörten Hamburg, den bunten Fünfzigern und der Aufbruchsstimmung der Sechziger. Als roter Faden agieren vier Freundinnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Beschreiben Sie sie.
Henny hat früh gelernt, dass man viel Geduld haben muss, sehr behutsam mit den Dingen, mit dem Leben umgehen muss. Sie hat gelernt, vieles auszuhalten. Käthe hat den völlig gegenteiligen Entwurf, sie ist das wandelnde Widerwort, absolut nicht angepasst, auch politisch nicht und bringt sich damit in Gefahr. Henny und Käthe sind beide Hebammen in der Geburtsklinik Finkenau. Lina, die Reformpädagogin, ist ein Freigeist, auch frühzeitig in die Rolle der Hüterin hineingedrängt, was später auch noch der Fall bei ihrer Lebensgefährtin Louise sein wird. Ida, die höhere Tochter, verwöhnt, von einer dünkelhaften Mutter erzogen. Sie ist diejenige, die den größten Ausbruch erlebt, da sie einen Mann aus dem Chinesenviertel liebt. Henny und Lina sind die Hüterinnen durch die Jahre.
Welche Figur ist Ihnen am nächsten?
Das wechselt. Im Moment ist es ganz stark Henny. Wie sie es schafft, ihre Familie zusammenzuhalten, eine gewisse Harmonie für ihre Kinder zu schaffen und schließlich auch für den Mann, den sie nach langen Umwegen endlich an ihrer Seite hat. Anfangs war mir Käthe näher, Henny war mir zu brav. Sie sollte ja so sein, aber ich habe mich mehr identifiziert mit Lina oder Käthe, den beiden Rebellinnen.
Sie erzeugen eine derartige Spannung und emotionale Tiefe, dass man meinen könnte, es hätte sich alles so zugetragen.
Ich habe inzwischen tatsächlich das Gefühl, das ist meine eigene Familie. Ich habe jetzt schon 1200 Seiten über „meine Menschen“, wie ich sie nenne, geschrieben und mit jeder Seite kommen sie mir näher. Ich weiß immer mehr von ihnen, weil ich natürlich auch Schicksal spiele (lacht).
Haben Sie die Entwicklungen von Anfang an im Kopf?
Nein. Ich wusste zum Beispiel gar nicht, ob Henny mit ihrem späteren Mann Theo zusammenkommt. Das zeichnete sich irgendwann ab. Ganz vieles entwickelt sich erst beim Schreiben. Natürlich schreibe ich ein Exposé, aber die Figuren bewegen sich und gehen oft andere Wege, als man mit ihnen vorhat. Das tun sie jetzt nicht so wie in einem WoodyAllen-Film, wo sie aus der Leinwand steigen und einem was vom Pferd erzählen. Sie tun das, weil ich ihnen bestimmte Szenen schreibe, weil ich ihnen bestimmte Sätze in den Mund lege. Plötzlich gehen sie einen anderen Weg. Das ist das Schöne, das Spannende.
Sie sprechen viele große Themen an, was sich bei einem Jahrhundert-Roman automatisch ergibt. So zum Beispiel auch Homosexualität.
Lina und Louise, Alex und Klaus … ja. Ich glaube, ich habe einige Hörer und Leser damit geschockt. Aber das gab es doch damals genauso wie heute, sie konnten es eben nur nicht offen leben. Sie waren bedroht von dem Paragraphen 175. Bei den Männern wurden ganze Lebensentwürfe zerstört bis hin zur existentiellen Vernichtung. Da haben sich 19-Jährige das Leben genommen, weil sie eine Vorladung bekamen. Frauen waren vom Paragraphen 175 nicht betroffen. Auch in dieser Hinsicht hat man die Frau nicht ernst genommen, zu ihrem Glück in diesem Fall.
Welches Jahrzehnt hat Ihnen beim Schreiben besonders gefallen?
Gefallen haben mir die 50er-Jahre. Als Kind habe ich gedacht, es wäre immer Frühling. Ich sehe die Pastelltöne vor mir, diese Aufbruchstimmung.
Und welches macht es Ihnen nicht leicht?
Ich merke gerade, wie anstrengend die 70er waren und sind. Da bin ich in dieses Haus gezogen und mir fällt auch alles zu, was die Atmosphäre und die Dinge des täglichen Lebens angeht. Doch ich war überrascht, was für eine unglaubliche Recherche rund um die RAF und den Deutschen Herbst nötig ist. Man muss seinem eigenen Zeitzeugentum sehr misstrauen.
Wo standen Sie in den 70ern?
Ich war Sympathisantin. Mit dem Wissen von heute habe ich natürlich einen ganz anderen Blick darauf. Der sich allerdings schon in den Siebzigerjahren änderte, als das Töten begann.
Verraten Sie uns noch einen kleinen Ausblick auf den dritten Band „Zeitenwende“?
Es kommt noch eine Ost-West-Deutsche Liebesgeschichte vor, die Aidsproblematik wird zumindest am Rande gestreift. 1994 wird noch etwas ganz Entscheidendes passieren: Hier wird es zum ersten Mal möglich, per DNA-Analyse festzustellen, wer der Vater ist. Ich weiß noch gar nicht, wer das von meinen Figuren einfordern wird, aber ich nehme an, das Kind, was geboren wird.
In Kürze ist der letzte Satz geschrieben. Werden Sie etwas vermissen?
Oh ja. Das wird ganz schrecklich, von den Figuren muss ich mich ja trennen. Ich bin denen so nahe, dass ich manchmal glaube, ich begegne ihnen auf der Straße. Nun muss ich die Figuren sterben lassen. Gucken Sie sich die Jahrgänge an! Die allerletzte Szene ist die Silvesternacht 2000. Da werden sie alle die Jahrtausendwende miteinander begehen. Mal schauen, wer noch an dem Tisch sitzt.