Weit draußen auf dem Meer
Anja Kampmann, bisher bekannt durch ihre Gedichte, hat ihren ersten Roman veröffentlicht. Von einer Ölplattform führt er durch verschiedene Länder bis hin in ein polnisches Dorf. Und schenkt seinen Lesern Momente großer Schönheit und Schwermut.
Anja Kampmanns Debütroman
Auf einer winzigen von Menschen geschaffenen Insel lebt und arbeitet Waclaw, ein nicht mehr junger Mann Anfang 50. Er strapaziert Körper und Geist über alle Maßen, verdient viel mehr Geld, als er ausgeben kann und während die Zeit vorbeirauscht, verliert er jede Verbindung zu seinem früheren Leben. Der Protagonist in Anja Kampmanns Debütroman „Wie hoch die Wasser steigen“arbeitet seit mehr als zwölf Jahren auf Ölplattformen auf verschiedenen Weltmeeren. Nur ein Freund teilt seine Einsamkeit. Mátyás lebt mit ihm im selben Zimmer, streichelt hin und wieder seinen Rücken, zieht mit ihm von Ort zu Ort. Und dann verschwindet dieser Freund, kommt bei einem Sturm ums Leben. Waclaw ist nun wirklich ganz allein auf sich gestellt. Mit diesem Gefühl absoluter Isolation beginnt der Roman. Schwer und mächtig spricht die Einsamkeit zum Leser durch jedes Wort, ohne dass Waclaw sie direkt benennen würde. Statt seine eigene Situation zu reflektieren, erinnert er sich an Momente mit dem Freund. Er versucht, ihm wieder nahezukommen, indem er seinen Heimatort in Ungarn aufsucht, mit seinem Onkel spricht und mit seiner Schwester eine Nacht verbringt. Doch Mátyás schweigt, Mátyás fehlt und irgendwann werden auch die Erinnerungen weniger präsent und Waclaw geht eine Schicht tiefer. Es wird ihm bewusst, dass dem Verlust des Freundes andere Verluste vorausgegangen sind. So wird das Buch langsam zu einer Art Rückkehr in Waclaws Vergangenheit, wobei man jedoch nie das Gefühl hat, sich gemeinsam mit ihm zielgerichtet irgendwo hinzubewegen. Es ist vielmehr so, als würde man treiben. Über den Ozean hin zu den unterschiedlichsten Orten in verschiedene Länder, von der Vergangenheit in die Gegenwart und wieder zurück. Stationen sind Ungarn, Italien, Marokko, Ägypten und Polen. Waclaws Wege kreuzen Bars, Hotelzimmer, einsame Strände, Feldwege, Gebirgsdörfer, Blumenläden und Bergbaugebiete. Er trifft auf verschiedene Menschen, Frauen und Männer, die sein Leben bereits in der Vergangenheit gestreift und auch berührt haben. Keinem von ihnen gelingt es, wirklich zu ihm durchzubrechen. Doch zurück bleiben Momentaufnahmen von Begegnungen, einprägsame Bilder, von der Schöpferin virtuos gemalt. Man merkt der Sprache an, dass die 1983 geborene Anja Kampmann, die am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert hat, bisher preisgekrönte und vielbeachtete Gedichte geschrie
ben hat. Wunderschön klingen die Worte, wenn man sie laut liest, jedes Kapitel birgt neue kleine Wunder, Beobachtungen, über die man staunt und sich freut.
Anja Kampmann selbst bezeichnet ihren Roman als „eine Einladung in diese Welt“. „Die Figuren trinken, lachen, weinen, sie benehmen sich daneben, sie haben nichts als dieses Leben, das sie an die verschiedensten Orte geführt hat, mit dem sie nun umgehen müssen.“Die Bilder, mit denen sie arbeitet, seien aus Erfahrungen und Beobachtungen entstanden, sie selbst stünde als Autorin aber weit hinter dem Text. Sie habe deswegen auf Kommentare und einen ordnenden oder urteilenden Erzähler verzichtet.
Das ist gut so, denn diese Erzählweise macht die Lektüre von „Wie hoch die Wasser steigen“aufregend und unmittelbar, wie Erlebnisse, die man an fremden Orten hat und noch nicht verarbeiten konnte. Lesen wird zur Abenteuerreise in eine weite, unbekannte Welt, die voller Schönheit ist. Und bisweilen auch zur beschwerlichen Wanderung. So wie Waclaw seinen riesigen Seesack überall mit sich herumschleppt, trägt man als Leser Waclaw mit sich herum. Seine Einsamkeit, seine Unzugänglichkeit und das, was er im Leben versäumt hat, wiegen schwer. Besonders dann, als er zum Romanende hin, dem, was er vor seiner Zeit auf dem Wasser zurückgelassen hat, näherkommt. Für seinen Onkel Alois bringt er eine Taube über die Alpen, das führt ihn zurück zu seinem Heimatdorf im Ruhrgebiet und zu Milena, der Frau, mit der er einmal sein Leben verbringen wollte.
Auch wenn Anja Kampmann mit Waclaw, der an einigen Stellen auch Wenzel, genannt wird, eine Figur geschaffen hat, die, sich selbst fremd geworden, auch den Leser immer auf Distanz hält, birgt er dennoch etwas zutiefst Vertrautes in sich, womit sich viele Leser gut identifizieren dürften. Er verkörpert den Typ des unsteten Wanderers, des maßlosen Ausreißers, der immer dem hinterherjagt, was er in der Ferne sieht und dabei sein Leben versäumt. Waclaw ist so etwas wie ein schwermütiger und sanfter Bruder von Odysseus oder Peer Gynt, oder aber ein typisches Opfer unserer modernen Arbeitswelt. Was nach der Lektüre dieses großartigen Romans, der zu Recht für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, übrig bleibt, ist ein Gefühl von Dankbarkeit, dass man selbst drinnen ist und nicht da draußen auf dem Meer oder auf der Straße oder in einem einsamen Hotelzimmer. Und dass man gut auf das aufpassen sollte, was man liebt.