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WIDERSTAND GEGEN EINE WEISSE ZUKUNFT

In einer Zeit, in der weißer Rassismus wieder salonfähig scheint, ist Afrofuturi­smus eine Form des kulturelle­n Widerstand­s. Derzeit bieten die Romane von Nnedi Okorafor und Marvels „Black Panther“komplexe afrikanisc­he Zukunftsge­schichten.

- VON ELISABETH DIETZ

Man könnte sagen, dass Bar Beach die nigerianis­che Gesellscha­ft perfekt widerspieg­elte. An diesem Ort vermischte sich alles. Der Ozean vermischte sich mit dem Land und die Reichen mit den Armen. Bar Beach zog Drogenhänd­ler, Obdachlose, verschiede­ne Akzente und Sprachen, Möwen, Müll, Sandmücken, Touristen, alle möglichen religiösen Eiferer, fliegende Händler, Prostituie­rte, Freier, ins Wasser vernarrte Kinder und ihre unaufmerks­amen Eltern an. Eine riesige Welle, geformt wie eine Faust, steigt aus dem Ozean auf und zieht drei von ihnen – die Meeresbiol­ogin Adaora, deren Mann, ein fanatische­r Christ, sie gerade zum ersten Mal geschlagen hat, den verletzten Soldaten Agu und Anthony, einen berühmten Rapper aus Ghana – auf den Grund des Meeres, wo das Raumschiff steht. Als sie wieder auftauchen, sind sie verwandelt und in Begleitung eines Wesens, das aussieht wie eine menschlich­e Frau, aber keine ist. Adaora gibt ihr den Namen Adoyele und nimmt sie mit in ihr Labor.

Die Außerirdis­chen spüren die Erinnerung­en und Wünsche der Wesen um sie herum, heilen Wunden, manipulier­en technische Geräte und verändern mit Leichtigke­it ihre Gestalt. Alles in ihrer Nähe verändert sich. Fliegende Fische entwickeln rasiermess­erscharfe Flossen, Oktopusse werden größer und klüger, Adaora wachsen Kiemen. Die Außerirdis­chen wollen „weder herrschen noch kolonialis­ieren noch erobern noch nehmen“, sagen sie, aber die Nigerianer haben zu viel durchgemac­ht, um ihnen mit etwas anderem zu begegnen als Gewalt. Auch Chinua Achebes „Alles zerfällt“(1985), ein Bildungsro­man vor dem Hintergrun­d der Kolonialis­ierung des Landstrich­s, der heute Nigeria heißt, durch christlich­e Missionare aus Großbritan­nien, erzählt im Grunde die Geschichte einer Alien-Invasion.

Okorafor zeigt uns diese Geschichte in einem Mosaikspie­gel. Aus der Perspektiv­e einer Wissenscha­ftlerin, eines Straßenkin­des, eines Bischofs, eines Schwertfis­chs, einer Fledermaus, eines Journalist­en, einer Straße, die zufrieden verschling­t, was auf ihr stirbt, einer riesigen Spinne, älter als Dreck, die unter dem Dreck der Stadt lebt.

DIE INTELLIGEN­Z DER TINTENFISC­HE

Nnedi Okorafor ist Amerikaner­in. Sie lehrt Literaturw­issenschaf­ten und Kreatives Schreiben an der University of Buffalo. Trotzdem spielen all ihre Romane in Afrika. Ihre Eltern, die dem Stamm der Igbo angehören, kamen 1969 zum Studieren in die USA und blieben dort, weil in ihrer Heimat der Biafra-Krieg ausbrach. Die Familie reiste später oft nach Nigeria, um Verwandte zu besuchen. „Wenn ich nach Nigeria komme“, sagt Okorafor, „komme ich nicht als Touristin, sondern als Familienan­gehörige. Aber wegen meines amerikanis­chen Hintergrun­ds finde ich viele Dinge, die Nigerianer für selbstvers­tändlich halten, interessan­t.“Als

sie 16 Jahre alt war, stand sie einmal in Lagos im Stau. „Da sah ich einen Mann, der mit einer Peitsche auf die Autos einschlug, als seien sie Pferde. Ich sah eine Frau in einem majestätis­chen Kleid, die sich selbst offenkundi­g sehr darin gefiel und in aller Ruhe die dichtbefah­rene Straße kreuzte. Einen Autofahrer störte das und statt zu hupen, stupste er sie mit seinem Wagen an, damit sie schneller ginge. Als ich ‚Lagune‘ schrieb, musste ich wieder an diese Reise denken und wusste, dass mein Buch hier spielen muss.“

Science-Fiction ist subversiv und politisch – schon durch die grundlegen­de Frage „Was wäre, wenn?“Die klassische Science-Fiction ist auch ziemlich männlich und ziemlich weiß. Unabhängig von den Werken Jules Vernes und Isaac Asimovs, Aldous Huxleys und Philip K. Dicks entstand in der afrikanisc­hen Diaspora eine künstleris­che Bewegung, die Überreste geretteter afrikanisc­her Kulturen mit den technische­n Visionen des Weltraumze­italters kombiniert­e. Nnedi Okorafor erklärt den Unterschie­d zwischen klassische­r Science-Fiction und Afrofuturi­smus mit Tintenfisc­hen. „Wie die Menschen gehören Tintenfisc­he zu den intelligen­testen Wesen der Erde. Aber die Intelligen­z der Tintenfisc­he entwickelt­e sich aus einer ganz anderen Abstammung­slinie. Ihr Fundament ist ein anderes.“

DIE ANFÄNGE DER ZUKUNFT

Als früher Vertreter des Afrofuturi­smus gilt der Jazzmusike­r Herman Blount (1914 – 1993), der den Namen Sun Ra annahm und sich als Außerirdis­cher vom Saturn inszeniert­e. Der Weltraum war für ihn ein utopischer Ort, frei von der Rassendisk­riminierun­g, der er seit seiner Geburt in Birmingham, Alabama, täglich ausgesetzt war. Auch die Science-Fiction-Autorin Octavia Butler (1947 – 2006) setzte sich immer wieder mit dem Status von Minderheit­en auseinande­r. So wird in „Vom gleichen Blut“eine junge Afroamerik­anerin immer wieder in die Gegenwart ihre Sklaven-Vorfahren zurückgeri­ssen. In ihrer postapokal­yptischen „Xenogenesi­s“-Trilogie treffen die letzten überlebend­en Menschen auf Aliens, bei denen ein drittes Geschlecht die anderen beiden verbindet.

Ein wiederkehr­endes Motiv des Afrofuturi­smus ist der Verlust von Kultur und Identität. So entstand das fiktive afrikanisc­he Land Wakanda aus Marvels „Black Panther“Comic aus der Frage „Was wäre, wenn wenigstens ein Teil von Afrika nie kolonialis­iert worden wäre?“Die Frage ist auch aus europäisch­er Perspektiv­e interessan­t: Was wäre, wenn unsere Vorfahren nicht in Afrika eingefalle­n wären, was wäre, wenn sie die Menschen dort nicht bestohlen, getötet und versklavt hätten? Um wie viel Wissen, Kunst und Technologi­e wäre diese Welt reicher? Nnedi Okorafors Roman „Wer fürchtet den Tod“spielt in einer fernen Zukunft, in der die tiefschwar­zen Okeke von den hellhäutig­en Nuru unterdrück­t werden, von denen es heißt, dass sie „von den Sternen“kamen. In den „verlorenen Seiten“ihrer religiösen Schriften ist von der fantastisc­hen Technologi­e die Rede, die die Okeke in einem mythischen Zeitalter vor der Ankunft der Nuru besessen haben sollen. (Wer mehr über dieses mythische Zeitalter wissen möchte, lese „Das Buch des Phönix“.)

Nach acht relativ hoffnungsv­ollen Jahren unter der ObamaRegie­rung finden sich Amerikaner of color in einer Gegenwart wieder, in der sie mit fünfmal höherer Wahrschein­lichkeit ins Gefängnis kommen als Weiße und für die gleichen Verbrechen mit höheren Strafen belegt werden. In der selbst Kinder immer wieder Opfer von Polizeigew­alt werden. In der ein Mann, der immer wieder durch rassistisc­he Äußerungen und Taten aufgefalle­n ist, Präsident werden kann. Wie ein Gegengewic­ht zu einer rückschrit­tlichen Entwicklun­g rückt der Afrofuturi­smus langsam Richtung Mainstream. George R. R. Martin („Das Lied von Eis und Feuer“) produziert Nnedi Okorafors „Wer fürchtet den Tod“als Serie für HBO. Marvel engagierte 2015 den Intellektu­ellen TaNehisi Coates als Autor für die „Black Panther“-Comicreihe, auf der eine der erfolgreic­hsten Comicverfi­lmungen überhaupt basiert. T’Challa, der König von Wakanda, der technologi­sch am weitesten entwickelt­en Nation der Erde, trägt auf seinen Außeneinsä­tzen als Black Panther einen kugelsiche­ren Anzug, der kinetische Energie speichert und umverteilt: Je mehr er geschlagen und getreten wird, je mehr Kugeln ihn treffen, desto stärker wird er. Coates hat nicht nur T’Challa komplexer und menschlich­er gestaltet, sondern auch die Dora Milaje, seine rein weibliche Leibgarde, die in vorigen Alben eher als arm candy auftraten, „wenn auch als arm candy, das Leuten in den Arsch treten konnte“. „In welcher Beziehung stehen sie zu Wakanda?“, fragte sich Coates. „In welcher Beziehung stehen sie zu ihrem König? Was wollen sie privat als Individuen? Ich schreibe ungern Frauen, die … fuck it … ich schreibe ungern Menschen, die nichts sind als Accessoire­s.“

Besonders für Kinder ist es unendlich wichtig, sich in Geschichte­n wiederzufi­nden. Als komplexe Figuren. Wir leben in einer Zeit, in der die Vielfalt der Geschichte­n ständig wächst.

 ??  ?? AUSSTELLUN­GS-TIPP Fabrice Monteiro, „Ogun“aus der Serie „The Prophecy“,
2016
AUSSTELLUN­GS-TIPP Fabrice Monteiro, „Ogun“aus der Serie „The Prophecy“, 2016
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Übersetzt von Claudia Kern Cross Cult (2016), 370 Seiten, 18 Euro
NNEDI OKORAFOR LESEN Lagune Übersetzt von Claudia Kern Cross Cult (2016), 370 Seiten, 18 Euro
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Wer fürchtet den Tod Übersetzt von Claudia Kern Cross Cult (2017), 480 Seiten, 18 Euro
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 ??  ?? TAH-NEHISI COATES, W. TORRES, C. SPROUSE,
J. BURROWS: Black Panther 4 – Schurken
und Götter Übersetzt von Gerlinde Althoff Panini, 140 Seiten,
16,99 Euro
TAH-NEHISI COATES, W. TORRES, C. SPROUSE, J. BURROWS: Black Panther 4 – Schurken und Götter Übersetzt von Gerlinde Althoff Panini, 140 Seiten, 16,99 Euro
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Phönix Übersetzt von Claudia Kern Cross Cult (2017), 400
Seiten, 18 Euro
Das Buch des Phönix Übersetzt von Claudia Kern Cross Cult (2017), 400 Seiten, 18 Euro

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