WIDERSTAND GEGEN EINE WEISSE ZUKUNFT
In einer Zeit, in der weißer Rassismus wieder salonfähig scheint, ist Afrofuturismus eine Form des kulturellen Widerstands. Derzeit bieten die Romane von Nnedi Okorafor und Marvels „Black Panther“komplexe afrikanische Zukunftsgeschichten.
Man könnte sagen, dass Bar Beach die nigerianische Gesellschaft perfekt widerspiegelte. An diesem Ort vermischte sich alles. Der Ozean vermischte sich mit dem Land und die Reichen mit den Armen. Bar Beach zog Drogenhändler, Obdachlose, verschiedene Akzente und Sprachen, Möwen, Müll, Sandmücken, Touristen, alle möglichen religiösen Eiferer, fliegende Händler, Prostituierte, Freier, ins Wasser vernarrte Kinder und ihre unaufmerksamen Eltern an. Eine riesige Welle, geformt wie eine Faust, steigt aus dem Ozean auf und zieht drei von ihnen – die Meeresbiologin Adaora, deren Mann, ein fanatischer Christ, sie gerade zum ersten Mal geschlagen hat, den verletzten Soldaten Agu und Anthony, einen berühmten Rapper aus Ghana – auf den Grund des Meeres, wo das Raumschiff steht. Als sie wieder auftauchen, sind sie verwandelt und in Begleitung eines Wesens, das aussieht wie eine menschliche Frau, aber keine ist. Adaora gibt ihr den Namen Adoyele und nimmt sie mit in ihr Labor.
Die Außerirdischen spüren die Erinnerungen und Wünsche der Wesen um sie herum, heilen Wunden, manipulieren technische Geräte und verändern mit Leichtigkeit ihre Gestalt. Alles in ihrer Nähe verändert sich. Fliegende Fische entwickeln rasiermesserscharfe Flossen, Oktopusse werden größer und klüger, Adaora wachsen Kiemen. Die Außerirdischen wollen „weder herrschen noch kolonialisieren noch erobern noch nehmen“, sagen sie, aber die Nigerianer haben zu viel durchgemacht, um ihnen mit etwas anderem zu begegnen als Gewalt. Auch Chinua Achebes „Alles zerfällt“(1985), ein Bildungsroman vor dem Hintergrund der Kolonialisierung des Landstrichs, der heute Nigeria heißt, durch christliche Missionare aus Großbritannien, erzählt im Grunde die Geschichte einer Alien-Invasion.
Okorafor zeigt uns diese Geschichte in einem Mosaikspiegel. Aus der Perspektive einer Wissenschaftlerin, eines Straßenkindes, eines Bischofs, eines Schwertfischs, einer Fledermaus, eines Journalisten, einer Straße, die zufrieden verschlingt, was auf ihr stirbt, einer riesigen Spinne, älter als Dreck, die unter dem Dreck der Stadt lebt.
DIE INTELLIGENZ DER TINTENFISCHE
Nnedi Okorafor ist Amerikanerin. Sie lehrt Literaturwissenschaften und Kreatives Schreiben an der University of Buffalo. Trotzdem spielen all ihre Romane in Afrika. Ihre Eltern, die dem Stamm der Igbo angehören, kamen 1969 zum Studieren in die USA und blieben dort, weil in ihrer Heimat der Biafra-Krieg ausbrach. Die Familie reiste später oft nach Nigeria, um Verwandte zu besuchen. „Wenn ich nach Nigeria komme“, sagt Okorafor, „komme ich nicht als Touristin, sondern als Familienangehörige. Aber wegen meines amerikanischen Hintergrunds finde ich viele Dinge, die Nigerianer für selbstverständlich halten, interessant.“Als
sie 16 Jahre alt war, stand sie einmal in Lagos im Stau. „Da sah ich einen Mann, der mit einer Peitsche auf die Autos einschlug, als seien sie Pferde. Ich sah eine Frau in einem majestätischen Kleid, die sich selbst offenkundig sehr darin gefiel und in aller Ruhe die dichtbefahrene Straße kreuzte. Einen Autofahrer störte das und statt zu hupen, stupste er sie mit seinem Wagen an, damit sie schneller ginge. Als ich ‚Lagune‘ schrieb, musste ich wieder an diese Reise denken und wusste, dass mein Buch hier spielen muss.“
Science-Fiction ist subversiv und politisch – schon durch die grundlegende Frage „Was wäre, wenn?“Die klassische Science-Fiction ist auch ziemlich männlich und ziemlich weiß. Unabhängig von den Werken Jules Vernes und Isaac Asimovs, Aldous Huxleys und Philip K. Dicks entstand in der afrikanischen Diaspora eine künstlerische Bewegung, die Überreste geretteter afrikanischer Kulturen mit den technischen Visionen des Weltraumzeitalters kombinierte. Nnedi Okorafor erklärt den Unterschied zwischen klassischer Science-Fiction und Afrofuturismus mit Tintenfischen. „Wie die Menschen gehören Tintenfische zu den intelligentesten Wesen der Erde. Aber die Intelligenz der Tintenfische entwickelte sich aus einer ganz anderen Abstammungslinie. Ihr Fundament ist ein anderes.“
DIE ANFÄNGE DER ZUKUNFT
Als früher Vertreter des Afrofuturismus gilt der Jazzmusiker Herman Blount (1914 – 1993), der den Namen Sun Ra annahm und sich als Außerirdischer vom Saturn inszenierte. Der Weltraum war für ihn ein utopischer Ort, frei von der Rassendiskriminierung, der er seit seiner Geburt in Birmingham, Alabama, täglich ausgesetzt war. Auch die Science-Fiction-Autorin Octavia Butler (1947 – 2006) setzte sich immer wieder mit dem Status von Minderheiten auseinander. So wird in „Vom gleichen Blut“eine junge Afroamerikanerin immer wieder in die Gegenwart ihre Sklaven-Vorfahren zurückgerissen. In ihrer postapokalyptischen „Xenogenesis“-Trilogie treffen die letzten überlebenden Menschen auf Aliens, bei denen ein drittes Geschlecht die anderen beiden verbindet.
Ein wiederkehrendes Motiv des Afrofuturismus ist der Verlust von Kultur und Identität. So entstand das fiktive afrikanische Land Wakanda aus Marvels „Black Panther“Comic aus der Frage „Was wäre, wenn wenigstens ein Teil von Afrika nie kolonialisiert worden wäre?“Die Frage ist auch aus europäischer Perspektive interessant: Was wäre, wenn unsere Vorfahren nicht in Afrika eingefallen wären, was wäre, wenn sie die Menschen dort nicht bestohlen, getötet und versklavt hätten? Um wie viel Wissen, Kunst und Technologie wäre diese Welt reicher? Nnedi Okorafors Roman „Wer fürchtet den Tod“spielt in einer fernen Zukunft, in der die tiefschwarzen Okeke von den hellhäutigen Nuru unterdrückt werden, von denen es heißt, dass sie „von den Sternen“kamen. In den „verlorenen Seiten“ihrer religiösen Schriften ist von der fantastischen Technologie die Rede, die die Okeke in einem mythischen Zeitalter vor der Ankunft der Nuru besessen haben sollen. (Wer mehr über dieses mythische Zeitalter wissen möchte, lese „Das Buch des Phönix“.)
Nach acht relativ hoffnungsvollen Jahren unter der ObamaRegierung finden sich Amerikaner of color in einer Gegenwart wieder, in der sie mit fünfmal höherer Wahrscheinlichkeit ins Gefängnis kommen als Weiße und für die gleichen Verbrechen mit höheren Strafen belegt werden. In der selbst Kinder immer wieder Opfer von Polizeigewalt werden. In der ein Mann, der immer wieder durch rassistische Äußerungen und Taten aufgefallen ist, Präsident werden kann. Wie ein Gegengewicht zu einer rückschrittlichen Entwicklung rückt der Afrofuturismus langsam Richtung Mainstream. George R. R. Martin („Das Lied von Eis und Feuer“) produziert Nnedi Okorafors „Wer fürchtet den Tod“als Serie für HBO. Marvel engagierte 2015 den Intellektuellen TaNehisi Coates als Autor für die „Black Panther“-Comicreihe, auf der eine der erfolgreichsten Comicverfilmungen überhaupt basiert. T’Challa, der König von Wakanda, der technologisch am weitesten entwickelten Nation der Erde, trägt auf seinen Außeneinsätzen als Black Panther einen kugelsicheren Anzug, der kinetische Energie speichert und umverteilt: Je mehr er geschlagen und getreten wird, je mehr Kugeln ihn treffen, desto stärker wird er. Coates hat nicht nur T’Challa komplexer und menschlicher gestaltet, sondern auch die Dora Milaje, seine rein weibliche Leibgarde, die in vorigen Alben eher als arm candy auftraten, „wenn auch als arm candy, das Leuten in den Arsch treten konnte“. „In welcher Beziehung stehen sie zu Wakanda?“, fragte sich Coates. „In welcher Beziehung stehen sie zu ihrem König? Was wollen sie privat als Individuen? Ich schreibe ungern Frauen, die … fuck it … ich schreibe ungern Menschen, die nichts sind als Accessoires.“
Besonders für Kinder ist es unendlich wichtig, sich in Geschichten wiederzufinden. Als komplexe Figuren. Wir leben in einer Zeit, in der die Vielfalt der Geschichten ständig wächst.