Kreative Buchkinder in Leipzig
Eine neue Reihe startet! Regelmäßig wollen wir Ihnen Projekte vorstellen, die sich herausragend, kreativ und mit
viel Herzblut für die Leseförderung von Kindern und Jugendlichen engagieren. Nachahmung erwünscht! Für diese Ausgabe sind wir in die Buchmesse-Stadt Leipzig gereist, um uns ein Konzept genauer anzuschauen, das hier entwickelt worden ist: die Buchkinder.
Es ist kurz vor 16 Uhr, als sich die Tür des BuchkinderAteliers in der Wiedebachpassage in Leipzig Connewitz das erste Mal öffnet. Mit einem freundschaftlichen High Five begrüßt Kursleiter Rulo Lange den ersten seiner Schützlinge, und ebenso herzlich geht es weiter. Man spürt sofort, dass sich hier Kinder und Erwachsene auf Augenhöhe begegnen. Wenig später werden sich zehn Kinder von sechs bis elf Jahren in dem hellen Raum tummeln und von Linolschnitt bis InDesign mit verschiedensten Gestaltungsmethoden arbeiten. Zielsicher und selbstverständlich zieht dafür zuallererst ein jedes Kind seine mit Namen beschriftete Holzkiste aus den deckenhohen Regalen. Darin aufbewahrt werden Manuskripttexte, Skizzen, Notizen, bunt gedruckte Blätter und die Original-Linolschnittplatten. Neugierig schaue ich den Kindern über die Schulter. Was steht heute an? Zum Beispiel lässt die sechsjährige Lucie mit viel Fantasie einen Hasen mit einem Pferd Verstecken spielen – auf einem Baum. Konzentriert zeichnet sie die Episode auf Linoleum vor, um sie später vorsichtig auszuritzen und in leuchtenden Farben zu drucken. Der siebenjährige Pit wiederum verfasst das handgeschriebene Impressum für seine fertiggestellte Rittergeschichte, der letzte, ganz ernsthafte Schritt nach großen Abenteuern auf dem Papier. Und der achtjährigen Stella fällt nach reichlicher Überlegung endlich ein, wie der wuschelig schlappohrige Hund in ihrer Geschichte heißen soll. Nila schreibt sie zufrieden in ihre handschriftlichen Konzepte.
BILDSPRACHE VOR SCHRIFTSPRACHE
Ich bin verblüfft! Vorschul- und Grundschulkinder, die eigene Geschichten malen und sogar aufschreiben? Rulo Lange, ein Buchkinder-Pionier der ersten Stunde im Jahr 1990, erklärt, dass von sehr unterschiedlichen Niveaus ausgehend, die Geschichten immer über die Bilder zum Text entstehen. Buchkinder-Regel Nummer eins ist dabei, den Kindern so wenig wie möglich vorzugeben. Wieder und wieder erzählen sie ihre Geschichten, erfinden dazu und verändern. Dazu entstehen gleichzeitig – und das ist Regel Nummer zwei – erste Bilder, indem einzelne Figuren und Episoden aus dem Gesamtgeschehen herausgelöst werden. Für die Jüngsten schreiben die Kursbetreuer assistierend mit und diktieren anschließend mittels einer Laut-Bild-Schriftsprache zurück. Ein A wird über ein Ameisenbild erklärt, ein H als Hase usw. So bilden sich zögerlich und frei nach Gehör, Laut für Laut und Buchstabe für Buchstabe, erst Wörter, dann Sätze und final ganze Texte. Die Kinder erobern sich ihre eigene Geschichte in der Schriftsprache zurück. Regel Nummer drei: Jedes Kind braucht dafür seine Zeit. Immer wieder helfen die Kinder einander im kreativen Prozess. Da werden Ideen gemeinsam entwickelt, da wird angeregt und korrigiert. Viele Monate dauert es, bis eine Geschichte in Bild und Text vollendet ist. Den Stolz darauf, die eigene Geschichte als Buch gedruckt und vom Buchbinder fachmännisch vollendet in den Händen zu halten, kann man sich buchstäblich wie bildhaft vorstellen. Die korrekte Rechtschreibung dabei vorerst außer Acht zu lassen, stattdessen der Fantasie zu folgen, ist Teil des Konzeptes, das sich an den Lehrmethoden freier Schulen und der Freinet-Pädagogik orientiert. Die
„Jedes Buch braucht seine Zeit. Deshalb muss das Entwicklungstempo jedes einzelnen Kindes Beachtung finden.“
RULO LANGE, PROJEKTLEITER FREUNDESKREIS BUCHKINDER
Begeisterung der Kinder fürs Geschichtenerzählen überträgt sich erfahrungsgemäß auf das Geschichtenlesen. Und bald schon wird durch das Lesen richtig verfasster Texte und eine Art Rückkopplung das fehlerfreie Schreiben erlernt. Der Vergleich des eigenen Werks mit dem von Erwachsenen wird aber nicht nur beim Lesen gesucht, sondern auch beim Vorlesen. Auf der Leipziger Buchmesse sowie in regelmäßig veranstalteten Lesungen und Ausstellungen haben die Buchkinder die Möglichkeit, ihre Geschichten einem breiten Publikum vorzustellen – womit auch die letzte Buchkinder-Regel benannt ist, die Kinder in ihrem kreativen Schaffen ernst zu nehmen. So gesehen überrascht es mich nicht zu hören, dass viele Kinder über mehrere Jahre Teil der Gemeinschaft bleiben. Die Interessen verschieben sich natürlich. So ist die elfjährige Maja mittlerweile dabei, gruselige Comics im Manga-Stil zu zeichnen und Nathalie nutzt heute den Computer, um am Design ihrer Illustrationen und handschriftlichen Texte zu feilen. Vor allem werden diese Kinder nachhaltig für das Medium Buch begeistert: Alle Buchkinder lesen, sagt Rulo Lange nicht ohne Stolz. Buchkinderarbeit ist sowohl Ausdrucks- als auch Leseförderung.
BUCHKINDER MOBIL
Vier Kurse dieser Art werden pro Woche angeboten – für alle Kinder, die sich für Schrift interessieren. 48 Bücher sind im Jahr 2017 entstanden. Damit sind aber noch längst nicht alle Aktivitäten des Freundeskreises Buchkinder genannt. In mehreren Leipziger Kitas, Schulen und Unterkünften für Geflüchtete ist der Verein wöchentlich mit seiner mobilen Druckerpresse zu Besuch. Seit Neuestem geht es dabei auch über die Leipziger Stadtgrenzen hinaus. In den dortigen kleineren Gemeinden füllen die Buchkinder-Kurse eine regelrechte Lücke im kulturellen Alltag. Gibt es in Städten oft ein reichhaltiges Kultur- und Bildungsprogramm für Kinder und Jugendliche, lassen sich solche Angebote im ländlichen Raum meist vergebens suchen. Entsprechend groß sind Interesse und Nachfrage an den Kursen, weitaus größer, als dass sie gedeckt werden könnten. Die Wartelisten sind lang. Umso naheliegender erscheint es, das BuchkinderKnow-how weiterzugeben, wofür zweitägige Seminare für interessierte Erwachsene angeboten werden. Teil des Seminarprogramms ist neben der Vermittlung von gestaltungspädagogischem Handwerkszeug selbst eine Geschichte in Bild und Text umzusetzen. Den Prozess von der ersten, zarten Idee bis zum fertigen Buch einmal selbst zu durchlaufen, ist wichtig, um später Kinder dabei anleitend unterstützen zu können. Viele der Erwachsenen seien erstaunt, wie viel Kreativität in ihnen schlummere, so Rulo Lange. Nun bin ich selbst ganz angefixt! Die Begeisterung dieser Leipziger Initiative hat mich in voller Kraft erwischt. Das wäre doch was: Buchkinder im ganzen Land!