Wenn das Lesen Kreise zieht
Emma Watson hat einen, genauso wie die Nachbarin oder der Kollege aus dem Büro. Sie alle teilen ihre Leseleidenschaft, sind Mitglieder oder Initiatoren von Buchclubs und Lesekreisen. Gemeinsames Lesen liegt im Trend.
Das Revival der Lesekreise
Lesen ist an sich eine einsame Beschäftigung – um in Romanwelten einzutauchen, koppeln wir uns von der Realität ab. Wir sehen die Welt mit anderen Augen und tauchen im besten Falle aus der Lektüre mit neuen Einsichten und Eindrücken wieder auf. Gerade, wenn ein Buch bewegt, ist der Austausch dazu mit anderen Menschen umso fruchtbarer und interessanter. Eben dieses Bedürfnis erfüllen seit jeher Literaturzirkel. Und doch erlebt das gemeinsame Lesen momentan ein fulminantes Revival. In diesem Jahr wurden vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels erstmals fünf Lesekreise ausgewählt, die den Deutschen Buchpreis offiziell lesend begleiteten. Dem schrumpfenden Buchkäufermarkt, der in zahlreichen Studien 2018 beklagt wurde, steht eine immer weiter wachsende Zahl von Lesekreisen gegenüber. Etwa 70 000 Lesekreis-Gruppen gibt es in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wie passt das zusammen und was macht das gemeinsame Lesen gerade heute wieder so reizvoll? „Lesekreise sind kein neues Phänomen. Allerdings werden Lesekreise momentan sichtbarer“, sagt Kerstin Hämke, die Gründerin von MeinLiteraturkreis.de, der größten Ratgeber- und Empfehlungsplattform für Lesekreise im deutschsprachigen Raum. „Das liegt zum einen daran, dass nun auch Verlage Lesekreismitglieder als Zielgruppe entdeckt haben und zu ausgewählten Büchern Zusatzmaterial anbieten. Zum anderen haben Medien gerade in den letzten Monaten verstärkt über das Thema berichtet.“An der medialen Berichterstattung ist
Kerstin Hämke selbst nicht ganz unschuldig, denn im Herbst 2018 erschien ihr viel beachtetes Lesekreis-Handbuch „Ein gutes Buch kommt selten allein“. Dieser fundierte und sehr ansprechend gestaltete Ratgeber liefert viel Wissenswertes für Lesekreis-Mitglieder, ebenso wie für interessierte Neulinge, die eine eigene Gruppe gründen wollen. Genauso wie in einem Lesekreis lernt man in diesem Buch von den Erfahrungen der anderen. Interessante Kurzinterviews mit Lesekreis-Gründern, wie dem Debattier-Experten Christof Gramm, sind integriert in die übersichtlich strukturierten Kapitel von der „Buchauswahl“über die „Diskussion“bis hin zu Tipps zur Leitung und Ideen, wie man einen langjährigen Lesekreis lebendig hält.
Kerstin Hämke sieht noch einen weiteren Grund für den Boom der Lesekreise: „Der Computer und das Handy sind inzwischen für viele Menschen ein unersetzlicher Partner. Zudem nimmt die Zahl der Single-Haushalte in den Städten zu. Als Gegensatz dazu könnte der Wunsch nach Gemeinsamkeit und guten Gesprächen wichtiger werden und Lesekreise bieten die Möglichkeit, aus einer einsamen Lektüre ein gemeinsames Erlebnis mit viel Spaß zu machen.“Dass immer mehr Menschen Lust auf diesen persönlichen Austausch haben, zeigt auch, dass zwei Drittel aller Lesekreise privat initiiert sind. Nur ein Drittel werden von Buchhandlungen, Bibliotheken oder anderen öffentlichen Einrichtungen ausgerichtet.
VERLAGE ENTDECKEN DIE VIELLESER
Auch Thomas Zirnbauer, Initiator des Lesekreis-Portals im dtv-Verlag, der als erster Verlag bereits seit August 2016 ein Serviceportal für Lesekreise anbietet, sieht das steigende Interesse: „Aus meiner Sicht wirken hier zwei Aspekte zusammen: Zum einen hat die digitale Vernetzung zu einer Sichtbarkeit des Themas geführt, die über den eigenen unmittelbaren Erfahrungsraum hinausgeht. So pflanzt sich die Lesekreis
Idee fort und inspiriert zur Nachahmung. Zum anderen: Wir erleben im analogen wie digitalen Leben ständig, wie rasch Kommunikation misslingt. Lesen fördert die Fähigkeit zum Perspektivwechsel. Vielleser sind tendenziell Menschen, die sich auch für andere Meinungen interessieren und zum Meinungsaustausch bereit sind. Der Lesekreis als Forum für das Gespräch über gemeinsame Lektüre ist für sie eine Möglichkeit, sich auf neutralem Boden über ein gemeinsames Erlebnis auszutauschen.“
Es ist gerade diese Zielgruppe der Vielleser, die für die Verlagswelt immer interessanter wird. Denn obwohl laut der aktuellen GfK-Studie dem Buchhandel seit 2012 6,1 Millionen Buchkäufer verloren gingen, verringerte sich die Stückzahl der gekauften Bücher nur geringfügig. Es sind also die Vielleser, die immer mehr Bücher kaufen und so den Buchhandel und die Verlage vor größeren Einbußen bewahren. Bei dtv in München hat man das früh erkannt, inzwischen bietet auch der Hanser Verlag Zusatzmaterialen für Lesekreise und die Holtzbrinck-Gruppe, zu der Verlage wie Rowohlt, S. Fischer, Kiepenheuer & Witsch und Droemer Knaur gehören, eröffnete im Sommer 2018 das Lesekreisportal Zusammen-lesen.de.
Die Eigenschaften, die ein gutes Lesekreis-Buch ausmachen, erklärt Thomas Zirnbauer folgendermaßen: „Jene Bücher, zu denen wir unser exklusives Material erarbeiten, verbindet im Kern, dass sie genug Tiefe haben müssen, um darüber reden zu können. Sie dürfen auch nicht zu umfangreich sein, weil meist nur ein Abend für den Austausch geplant ist und sich viele Lesekreise zudem im Schnitt alle vier Wochen treffen.“Wer Inspiration sucht, der wird auch in Hämkes Handbuch fündig, dort werden die 50 besten Bücher für Lesekreise empfohlen und ausführlich vorgestellt. Aus Feedback von Lesekreisen und Testleserinnen ihres Portals ist eine interessante Liste entstanden von Chimamanda Ngozi Adichies „Americanah“bis Frédéric Zwickers „Hier können Sie im Kreis gehen“– zu denen man im Webportal weiterführende Informationen wie Interviews finden.
ONLINE-LESECLUBS UND SHARED READING
In Amerika sind digitale Lesercommunitys wie Goodreads von Amazon schon länger sehr populär. Emma Watsons Leseclub „Our shared shelf“hat dort über 220 000 Mitglieder, die mit der ehemaligen Hermine-Darstellerin aus den „Harry Potter“-Filmen über feministische Literatur diskutieren. „Die Digitalisierung hält auch bei der gemeinsamen Diskussion Einzug“, bestätigt Kerstin Hämke. „Es werden zunehmend Online-Lesekreise angeboten, wobei diese auf Webseiten, in Facebook-Gruppen, aber auch auf Twitter zu finden sind. Teilweise werden analoge und digitale Formen miteinander verbunden, etwa wenn die Diskussion einer Gruppe, die sich persönlich trifft, auf einer Facebook-Seite fortgeführt wird.“Auch die Ideen zur Weiterentwicklung ihres eigenen Portals gehen Hämke nicht aus: „Im letzten Jahr haben wir einen Online-Leseclub auf Facebook gegründet. Als Nächstes werden wir eine Lesekreisbörse starten; dort können Lesekreise neue Mitglieder finden oder sich Interessenten zusammenfinden, um eine neue Gruppe zu gründen.“
Der emotionalste Beitrag zum Thema Lesekreise stammt von einem Mann, der 30 Jahre unschuldig in der Todeszelle saß und dessen Buch im Frühjahr 2018 in den USA erschienen ist. Anthony Ray Hinton beschreibt in einem Kapitel von „The Sun Does Shine“, wie er im Todestrakt einen Buchclub gründete und wie das gemeinsame Lesen von James Baldwins „Go Tell It on the Mountain“(„Von dieser Welt“, bei dtv im Lesekreisportal-Angebot) alles veränderte, denn er wusste intuitiv, „wenn der Geist sich öffnet, wird das Herz folgen“. Das Gespräch über das Buch eröffnete nicht nur neue Sichten auf den Roman, sondern auch auf das Leben selbst. Mit diesem Ansatz arbeitet auch „The Reader Organistion“aus Liverpool. Ab 2002 eroberte Dr. Jane Davis’ therapeutisches Konzept des Shared Reading den öffentlichen Raum, es wird auch in Krankenhäusern und Altenheimen erfolgreich eingesetzt. Heute gibt es fast 400 SharedReading- Gruppen in Großbritannien und seit 2016 haben Thomas Böhm und Carsten Sommerfeldt das Modell auch nach Deutschland geholt. Shared Reading unterscheidet sich vom Lesekreis, weil sich Menschen außerhalb ihres normalen sozialen Umfelds begegnen und keinerlei Vorbildung notwendig ist. Das Konzept ist ebenso einfach wie effektiv: Rund zehn Menschen treffen sich einmal wöchentlich, um 90 Minuten gemeinsam Texte laut zu lesen und sich auszutauschen. Ein ausgebildeter Moderator, im Shared Reading „Facilitator“genannt, bringt einen Prosatext mit und lenkt das Gespräch über die Eindrücke und Empfindungen.
Ob privater Lesekreis oder das in öffentlichen Institutionen wie Bibliotheken angebotene Shared Reading – lesen verbindet und das ist umso wichtiger und wertvoller in Zeiten persönlicher Filterblasen, die immer nur die eigene Weltsicht widerspiegeln.