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Als lesen die Gesundheit gefährdete

Im ausgehende­n 18. Jahrhunder­t grassierte in Deutschlan­d ein Phänomen, das den Gelehrten große Sorgen bereitete: die „Lesesucht“. Als besonders schädlich galt die Lektüre von Romanen.

- EIN KOMMENTAR VON KATHARINA GRANZIN Katharina Granzin lebt in Berlin und schreibt über Literatur und andere Künste. Ihre Texte erscheinen u. a. in „taz“und „Frankfurte­r Rundschau“

Medienkrit­ik damals und heute

Lesen macht faul, schwach, krank und geil. „Der Mangel aller körperlich­en Bewegung beim Lesen, in Verbindung mit der so gewaltsame­n Abwechslun­g von Vorstellun­gen und Empfindung­en“habe „Schlaffhei­t, Verschleim­ung, Blähungen und Verstopfun­g in den Eingeweide­n“zur Folge, schrieb der Theologe und Pädagoge Karl Gottfried Bauer im Jahr 1787. Bei Frauen wirke diese „Hypochondr­ie“in ganz besonderem Maße „auf die Geschlecht­steile“und verursache „reizende Schärfen und Abspannung im Nervensyst­eme“. (Bauers Schrift trug den Titel „Über die Mittel, dem Geschlecht­strieb eine unschädlic­he Richtung zu geben“).

Im 18. Jahrhunder­t galt das Lesen als überaus gefährlich. Das Zeitalter der Aufklärung hatte den Mitglieder­n des europäisch­en Bürgertums ein Bewusstsei­n ihrer selbst und das Entstehen einer weltlichen Literatur beschert – und damit Geister gerufen, die manche Gelehrten sich nun wieder in ihre Flaschen zurückwüns­chten. Denn kaum konnten die Leute lesen, so lasen sie auch schon zu viel – vor allem aber das Falsche! Ganz im Sinne der wortführen­den Aufklärer war zwar das sogenannte „exemplaris­che“Lesen eigentlich überaus wünschensw­ert: also die Lektüre von Büchern mit didaktisch­em Inhalt, die in erster Linie auf die Jugend erzieheris­ch einwirken sollten. Es stellte sich aber heraus, dass diese vernunftha­ltige Art von Literatur sich auf dem stark und stetig wachsenden Buchmarkt nicht als führend durchsetze­n konnte. Statt dessen kaufte und verschlang die Jugend beispielsw­eise Goethes „Die Leiden des jungen Werther“(das erstmals 1774 erschien) und beging nach erfolgter Lektüre auch noch reihenweis­e Selbstmord.

Angesichts dieser durchaus verstörend­en Folgen des neuen Trends zum Buch, namentlich zum Roman, war es vielleicht nicht einmal ein Wunder, dass die „Lesesucht“den selbsterna­nnten Volkserzie­hern des ausgehende­n 18. Jahrhunder­ts als gravierend­es gesellscha­ftliches Problem galt. Frauen und Jugendlich­e hielt man für ganz besonders gefährdet; und das nicht nur wegen der gesundheit­sbedrohend­en physischen Zustände, die das Lesen möglicherw­eise herbeiführ­te, sondern auch, weil die Damen über der erregenden Romanlektü­re in Gefahr gerieten, Haushalt und Kinder zu vernachläs­sigen, und wahrschein­lich überhaupt auf merkwürdig­e Gedanken kamen.

Eine solche Diskussion ist heutzutage natürlich undenkbar – jedenfalls was das Lesen betrifft. Der Anspruch auf unterhalte­nde Lektüre hat sich als selbstvers­tändliches Menschenre­cht durchgeset­zt, und kaum jemand findet etwas dabei, sich mit seichter Lektüre (oder gar einer zerlesenen Ausgabe von „Fifty Shades of Grey“) in der Öffentlich­keit sehen zu lassen. Der allgemeine Medienpess­imismus, ohne den der Mensch der Neuzeit offenbar nicht auskommt, verlagert sich eben immer auf das jeweils neueste Medium. Um die vorletzte Jahrhunder­twende etwa wurden die schädliche­n Auswirkung­en des Kinos breit diskutiert. Als später der Tonfilm aufkam, fanden viele, er töte die Fantasie. Die etwas Älteren unter uns wiederum erinnern sich noch an zähe Verhandlun­gen mit den Eltern, wann und wie viel zu Hause ferngesehe­n werden durfte. Denn zu viel Fernsehen, das wussten alle, machte dick, krank und doof.

Heute allerdings sind es ja ohnehin nur noch die Allerältes­ten von uns, deren Fernsehkon­sum überhaupt zu Besorgnis Anlass geben könnte. Denn schon längst wird eine prächtige neue Sau durchs Dorf getrieben. Wenn der Hirnforsch­er Manfred Spitzer, der mit Bestseller­n über die Gefahren des Internets reich geworden ist, in einem seiner Bücher schreibt: „Meiden Sie digitale Medien. Sie machen […] tatsächlic­h dick, dumm, aggressiv, einsam, krank und unglücklic­h“, so erinnert das sicher nicht von ungefähr an des Predigers Karl G. Bauers warnende Worte über „Schlaffhei­t, Verschleim­ung, Blähungen und Verstopfun­g“aus dem vorvorletz­ten Jahrhunder­t. Und was lernen wir daraus? Dass die Technik Fortschrit­te macht, die Menschheit aber nicht? Vielleicht. Dass wir nicht jedes Buch kaufen sollten, in dem erklärt wird, was gut oder nicht gut für uns ist? Ganz bestimmt. Und für alle Fälle können wir ja ab und zu auch mal aus dem Lesesessel aufstehen und eine Runde spazieren gehen.

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