Als lesen die Gesundheit gefährdete
Im ausgehenden 18. Jahrhundert grassierte in Deutschland ein Phänomen, das den Gelehrten große Sorgen bereitete: die „Lesesucht“. Als besonders schädlich galt die Lektüre von Romanen.
Medienkritik damals und heute
Lesen macht faul, schwach, krank und geil. „Der Mangel aller körperlichen Bewegung beim Lesen, in Verbindung mit der so gewaltsamen Abwechslung von Vorstellungen und Empfindungen“habe „Schlaffheit, Verschleimung, Blähungen und Verstopfung in den Eingeweiden“zur Folge, schrieb der Theologe und Pädagoge Karl Gottfried Bauer im Jahr 1787. Bei Frauen wirke diese „Hypochondrie“in ganz besonderem Maße „auf die Geschlechtsteile“und verursache „reizende Schärfen und Abspannung im Nervensysteme“. (Bauers Schrift trug den Titel „Über die Mittel, dem Geschlechtstrieb eine unschädliche Richtung zu geben“).
Im 18. Jahrhundert galt das Lesen als überaus gefährlich. Das Zeitalter der Aufklärung hatte den Mitgliedern des europäischen Bürgertums ein Bewusstsein ihrer selbst und das Entstehen einer weltlichen Literatur beschert – und damit Geister gerufen, die manche Gelehrten sich nun wieder in ihre Flaschen zurückwünschten. Denn kaum konnten die Leute lesen, so lasen sie auch schon zu viel – vor allem aber das Falsche! Ganz im Sinne der wortführenden Aufklärer war zwar das sogenannte „exemplarische“Lesen eigentlich überaus wünschenswert: also die Lektüre von Büchern mit didaktischem Inhalt, die in erster Linie auf die Jugend erzieherisch einwirken sollten. Es stellte sich aber heraus, dass diese vernunfthaltige Art von Literatur sich auf dem stark und stetig wachsenden Buchmarkt nicht als führend durchsetzen konnte. Statt dessen kaufte und verschlang die Jugend beispielsweise Goethes „Die Leiden des jungen Werther“(das erstmals 1774 erschien) und beging nach erfolgter Lektüre auch noch reihenweise Selbstmord.
Angesichts dieser durchaus verstörenden Folgen des neuen Trends zum Buch, namentlich zum Roman, war es vielleicht nicht einmal ein Wunder, dass die „Lesesucht“den selbsternannten Volkserziehern des ausgehenden 18. Jahrhunderts als gravierendes gesellschaftliches Problem galt. Frauen und Jugendliche hielt man für ganz besonders gefährdet; und das nicht nur wegen der gesundheitsbedrohenden physischen Zustände, die das Lesen möglicherweise herbeiführte, sondern auch, weil die Damen über der erregenden Romanlektüre in Gefahr gerieten, Haushalt und Kinder zu vernachlässigen, und wahrscheinlich überhaupt auf merkwürdige Gedanken kamen.
Eine solche Diskussion ist heutzutage natürlich undenkbar – jedenfalls was das Lesen betrifft. Der Anspruch auf unterhaltende Lektüre hat sich als selbstverständliches Menschenrecht durchgesetzt, und kaum jemand findet etwas dabei, sich mit seichter Lektüre (oder gar einer zerlesenen Ausgabe von „Fifty Shades of Grey“) in der Öffentlichkeit sehen zu lassen. Der allgemeine Medienpessimismus, ohne den der Mensch der Neuzeit offenbar nicht auskommt, verlagert sich eben immer auf das jeweils neueste Medium. Um die vorletzte Jahrhundertwende etwa wurden die schädlichen Auswirkungen des Kinos breit diskutiert. Als später der Tonfilm aufkam, fanden viele, er töte die Fantasie. Die etwas Älteren unter uns wiederum erinnern sich noch an zähe Verhandlungen mit den Eltern, wann und wie viel zu Hause ferngesehen werden durfte. Denn zu viel Fernsehen, das wussten alle, machte dick, krank und doof.
Heute allerdings sind es ja ohnehin nur noch die Allerältesten von uns, deren Fernsehkonsum überhaupt zu Besorgnis Anlass geben könnte. Denn schon längst wird eine prächtige neue Sau durchs Dorf getrieben. Wenn der Hirnforscher Manfred Spitzer, der mit Bestsellern über die Gefahren des Internets reich geworden ist, in einem seiner Bücher schreibt: „Meiden Sie digitale Medien. Sie machen […] tatsächlich dick, dumm, aggressiv, einsam, krank und unglücklich“, so erinnert das sicher nicht von ungefähr an des Predigers Karl G. Bauers warnende Worte über „Schlaffheit, Verschleimung, Blähungen und Verstopfung“aus dem vorvorletzten Jahrhundert. Und was lernen wir daraus? Dass die Technik Fortschritte macht, die Menschheit aber nicht? Vielleicht. Dass wir nicht jedes Buch kaufen sollten, in dem erklärt wird, was gut oder nicht gut für uns ist? Ganz bestimmt. Und für alle Fälle können wir ja ab und zu auch mal aus dem Lesesessel aufstehen und eine Runde spazieren gehen.