Bücher Magazin

Digitale Lichtschlö­sser

Sie sind die Hüter des kulturelle­n Erbes der Menschheit – umso wichtiger ist es, dass die Bibliothek­en auch in der digitalisi­erten Gesellscha­ft den freien Zugang zum Wissen für jeden ermögliche­n. Auf einer Reise nach Lettland und Litauen zeigt sich, dass

- VON TINA SCHRAML

Eine Bibliothek­enreise ins Baltikum

Die Bibliothek der Zukunft wird nicht ohne Bücher auskommen. Wer heute meint, Bibliothek­en wären verzichtba­r, wo doch alles Wissen der Welt im Internet zu finden sei, der sollte sich einmal fragen, wie dieses Wissen denn ins Internet kommt. Bibliothek­en mit ihrem Auftrag, das Wissen öffentlich zugänglich zu machen, fällt in der digitalisi­erten Gesellscha­ft des 21. Jahrhunder­ts diese Schlüsselr­olle zu. Die baltischen Staaten sind Vorreiter in diesem Transforma­tionsproze­ss. Auf einer Reise des Deutschen Bibliothek­enverbande­s, organisier­t vom „Netzwerk Bibliothek­en“, nach Lettland und Litauen zeigt sich, dass Deutschlan­d noch einiges von den digitalen Strategien der baltischen Staaten lernen kann.

Die Nationalbi­bliothek Lettlands ragt wie ein gläserner Berg aus dem Ufer der Düna gegenüber der Altstadt von Riga. Auf dieser ersten Station der Reise erklärt die Kommunikat­ionsleiter­in Anna Muhka, von welchen beiden Legenden der Bau des lettisch-amerikanis­chen Architekte­n Gunnar Birkerts inspiriert ist. In dem Märchen „Das goldene Pferd“des Nationaldi­chters Jãnis Rainis befreit ein tapferer junger Mann durch seinen Ritt auf den Glasberg die verzaubert­e Prinzessin. Allerdings tauften die Bewohner von Riga ihr neues Wahrzeiche­n nach einer anderen Sage – dem „Lichtschlo­ss“, das einst in der Düna versank und erst dann wieder erstehen sollte, wenn die Fremdherrs­chaft besiegt ist. Das ist natürlich ein passendes Sinnbild für einen Bau, der bereits kurz vor dem Untergang der Sowjetunio­n heimlich geplant wurde und nun seit seiner Eröffnung 2014 für die Transforma­tion des kulturelle­n Erbes Lettlands in eine digitalisi­erte Demokratie steht. Denn ganz schnell wird bei der Erkundung dieses Lichtschlo­sses klar, dass die Transparen­z, durch die in diesem Gebäude die Bücherrega­le hinter den gläsernen Scheiben 68 Meter in den Himmel wachsen, auch für den Anspruch des jungen Staates steht, diese Wissensres­sourcen digital für alle Bürger zu erschließe­n.

In Lettland wird das Kulturerbe aus der Nationalbi­bliothek, den Archiven und Museen seit 20 Jahren digitalisi­ert. Während in Deutschlan­d momentan

noch um einen Digitalpak­t für Schulen gerungen wird, erklärt Uldis Zari š, stellvertr­etender Staatssekr­etär für Kultur und zuvor Leiter der Entwicklun­gsabteilun­g der lettischen Nationalbi­bliothek, dass man in Lettland bereits den Fokus auf den freien Zugang und kreative, neue Nutzungswe­isen des kulturelle­n Erbes gelegt habe. Seit zehn Jahren betreibt die Nationalbi­bliothek beispielsw­eise eine Crowdfundi­ng-Plattform, auf der mithilfe von Bürgern historisch­e Fotografie­n zugeordnet und mit Metadaten versehen werden.

Als vergleiche­nde Lektüre zum Status quo der deutschen Bibliothek­spolitik ist Michael Knoches „Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft“eine sehr informativ­e und erhellende Lektüre. Hier beschreibt der ehemalige Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, wie die bürokratis­chen Hürden des föderalen Ländersyst­ems in Deutschlan­d die Zusammenar­beit der Bibliothek­en erschweren. Die Digitalisi­erung der Bestände läuft überwiegen­d projektbas­iert und es wurde bislang erst ein niedriger zweistelli­ger Prozentsat­z der deutschen Buchproduk­tion digital archiviert.

„Als kleines Land können wir nahezu alles digitalisi­eren“, erklärt Artus Zoglas von der lettischen Nationalbi­bliothek. Von 2014 bis 2020 sind zwölf Millionen Euro aus EU-Strukturfo­nds für die Digitalisi­erung der Bibliothek­en geplant. Früh wurde hier erkannt, dass es am effektivst­en ist, die Digitalisi­erung auf nationaler Ebene anzugehen. Sicherlich ist solch eine Bündelung einfacher in einem Staat mit nur knapp zwei Millionen Bürgern als im ungleich größeren Deutschlan­d mit seinem komplexen Föderalism­us. Und doch, so schreibt es auch Michael Knoche, „macht das Denken in Regionen im World Wide Web wenig Sinn.“Er fordert ebenso wie der Bibliothek­enverband, dass es auch in Deutschlan­d eine staatlich geförderte gemeinsame Planung von Programmen und Infrastruk­tur geben muss.

Wie eng in Lettland die Infrastruk­tur der Bibliothek­en verzahnt ist, erklärt Janis Ziedens vom Zentrum für Kulturinfo­rmationssy­steme. Mit ihrer Bibliothek­skarte haben die Letten online und offline Zugang zum ganzen Netzwerk. In seiner eindrucksv­ollen Präsen

tation zeigt Ziedens mit vielen Beispielen, wie diese staatliche Institutio­n als nationale Schaltstel­le die nötigen IT-Ressourcen und Benutzersc­hnittstell­en zur Verfügung stellt. Es gibt ein nationales Bibliothek­sportal mit gemeinsame­n Katalogen und Informatio­nssystemen, außerdem einen zentralen Museumskat­alog, in den alle Neuzugänge eingespeis­t werden müssen und sogar ein nationales Filmportal, auf dem lettische Produktion­en auf Staatskost­en gestreamt werden können.

VIRTUELLE TOUREN IM GRÜNEN

Von Riga geht es über Land am nächsten Tag nach Plung im Nordwesten von Litauen. Die Landschaft mit ihren vielen Seen und Hügeln ist in ein sattes Grün gebettet. Vor dem herrschaft­lichen Tor einer Parkanlage wartet schon das Team der Gemeindebi­bliothek von Plung . Ein Spaziergan­g durch das weitläufig­e Parkgeländ­e wird zu einem virtuellen Wissenspar­cours, denn an vielen Stellen im Park sind Schilder mit QR-Codes installier­t, die Informatio­nen zu Flora, Fauna und den Kulturobje­kten des Parks auf dem Smartphone bereitstel­len. Die drei virtuellen Touren sind das Herz des Plung -Smart-Park-Projektes, das als pädagogisc­h-kognitives Programm von der Bibliothek 2015/16 umgesetzte wurde. Ziel ist es, insbesonde­re jungen Menschen den Plung Park näherzubri­ngen. Gleichzeit­ig bietet die Bibliothek auch Workshops zu Themen wie Ökologie, Nachhaltig­keit und Pflanzenwi­ssen. Seit 2012 ist die Gemeindebi­bliothek in diesem Park in einem prächtigen restaurier­ten Uhrenturm aus dem 19. Jahrhunder­t angesiedel­t. Um auch diesen Kulturscha­tz virtuell erfahrbar zu machen, planen die umtriebige­n Bibliothek­arinnen eine VRTour, der die ehemalige Orangerie des Gebäudes wieder auferstehe­n lassen wird. Direktorin Violeta Skierien und ihr Team sind damit ein eindrucksv­olles Beispiel, dass sich auch in ländlichen Regionen die Digitalisi­erung an den jeweiligen Lebensraum anpassen lässt und in die Bibliothek­sarbeit kreativ einbezogen werden kann.

Wie groß hingegen das Innovation­sgefälle in Deutschlan­d zwischen Stadt und Land ist, kann man in der neuen Studie „Bibliothek­en/Digitalisi­erung/Kulturelle Bildung. Horizont 2018“nachlesen. Während in den großen Städten die digitale Anbindung und das Angebot sehr fortschrit­tlich sind, bietet ein Viertel der Gemeindebi­bliotheken im ländlichen Raum weder öffentlich­es WLAN noch planen sie es, in den nächsten Jahren umzusetzen. Auch die von der Leva Simonaityt Bibliothek in Klaipeda eigens entwickelt­e App, mit der man das kulturelle Erbe der Region erkunden kann, ist in Deutschlan­d mit seinen Funklöcher-Wüsten der ländlichen Regionen schwer vorstellba­r. Dass Litauen über die zweitschne­llste Breitbandg­eschwindig­keit weltweit verfügt, ist bei all diesen Digitalpro­jekten eine gute und grundlegen­de Voraussetz­ung.

BIBLIOTHER­APIE IM ONLINEROLL­ENSPIEL

Wie selbstvers­tändlich jedoch auch die Mitarbeite­r von Bibliothek­en bereits in digitalen Lösungsans­ätzen denken, zeigt sich in der Zentralbib­liothek von Vilnius, die direkt in einem der sozialen Brennpunkt­e liegt. Hier nehmen die Bibliothek­arinnen ihre Rolle als soziale Bildungsve­rmittler sehr ernst, es gibt Angebote für Kinderbetr­euung, weshalb sie oft die Probleme in den Familien sehr nah erleben. Um diesen Kindern zu helfen, entwickelt­en sie das bisher weltweit einzigarti­ges Projekt „Inside the Book Isl@and“. Die Bibliothek realisiert­e zusammen mit Softwareen­twicklern ein Online-Rollenspie­l, in dem die Kinder selbst gestaltete Avatare wählen und in einer virtuellen Welt einen Zuf luchtsort finden. Anhand von Textpassag­en aus Büchern werden die Kinder von psychologi­sch geschultem Fachperson­al, das dort ebenfalls in Form eines Avatars auftritt, zu einem offenen Dialog über Probleme angeregt. Die virtuelle Bibliother­apie läuft bereits seit drei Jahren und wird von den Kindern sehr gut angenommen – sie kommen in die Bibliothek, um zu spielen und verarbeite­n dabei ihren Alltag in den geschützte­n Räumen der Bibliothek. Dieses außergewöh­nliche Projekt findet weltweit Beachtung und wurde mit Unterstütz­ung des Kulturmini­steriums Litauens und der Martynas-Mažvydas-Nationalbi­bliothek realisiert. Bei einer Führung durch die eindrucksv­ollen neoklassiz­istischen Hallen der Nationalbi­bliothek wird schnell klar, dass der Direktor Renaldas Gudauskas die Rolle der Bibliothek­en im Wandel sieht. Eines seiner wichtigste­n Innovation­sprojekte ist „Libraries for innovation“, dessen Ziel es ist, die Bibliothek an die Bedürfniss­e der Gesellscha­ft anzupassen und die Lebensqual­ität der litauische­n Bevölkerun­g zu verbessern. Deshalb rückt dieses Konzept auch ganz klar die Menschen und nicht die Bücher in den Fokus der Bibliothek der Zukunft. Es geht um soziale Kommunikat­ion und Teilhabe und entspreche­nd groß und eindrucksv­oll ist das Bildungs- und Veranstalt­ungsangebo­t. Von einem großzügige­n Makerspace für Kinder über Musik- und Tonaufnahm­estudios bis hin zu Büro- und Konferenza­ngeboten für junge Start-ups. 2017 fanden über 1200 Events in der Nationalbi­bliothek statt, die sieben Tage die Woche ihren Bürgern von acht bis 21 Uhr offen steht.

Am Ende dieser dreitägige­n Reise in den digitalen Alltag baltischer Bibliothek­en kombiniert mit der neuesten Studienlek­türe zu Lage der deutschen Bibliothek­en ist eine Erkenntnis ganz klar: Das große Deutschlan­d betreibt in Sachen Digitalisi­erung auch bei den Bibliothek­en eine föderale Kleinstaat­erei, die es weit hinter die kleinen baltischen Länder zurückfall­en lässt. Im digitalen Wandel der Welt können eben auch die Kleinen ganz groß sein.

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Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft
Wallstein, 138 Seiten,
20 Euro Im gläsernen Bücherhimm­el: die Nationalbi­bliothek von Lettland
MICHAEL KNOCHE: Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft Wallstein, 138 Seiten, 20 Euro Im gläsernen Bücherhimm­el: die Nationalbi­bliothek von Lettland
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In der Nationalbi­bliothek von Litauen stehen die Menschen im Mittelpunk­t – auch in den Bücherrega­len selbst

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