Der Weltuntergang muss erneut verschoben werden
Die Digitalisierung hat verändert, wie wir Bücher entdecken, lesen und verkaufen, wie wir schreiben und über Literatur sprechen. Kleine und große Verlage, Netzwerke und Buchhandlungen erproben neue Methoden der Literaturvermittlung im digitalen Raum.
Wie die Digitalisierung das Lesen verändert
Im Mai 2018 ging Sobooks vom Netz. Christoph Kappes und Sascha Lobo hatten die Social-Reading-Plattform 2013 mit dem Anspruch gegründet, „den neuen Standard für das Lesen im Netz“zu setzen. Sobooks wollte die Debatten, die sich an Büchern entzünden, wieder zurück ins Buch verlagern. Parallel zum Text sah der Leser auf Wunsch die Kommentare anderer Nutzer. Inhalte konnten auf Wortebene markiert, annotiert und geteilt werden. Der Link führte
dann zurück ins Buch, direkt in die Diskussion. Bücher konnten im Browser gelesen oder heruntergeladen werden – ohne Kopierschutz, mit Wasserzeichen.
Sobooks war elegant, innovativ und gut vernetzt. In einem digitalen Lesesaal diskutierten RedakteurInnen der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“mit Sobooks-Usern über Neuerscheinungen. Auf Langstreckenflügen der Lufthansa konnte man über das Flugzeug-Intranet Sobooks-Bücher herunterla
den. „Wir haben zu sehr auf ‚Avantgarde‘-Konzepte gesetzt, wir hätten mit dem Buchverkauf anfangen sollen und guten Rezensionen“, sagt Christoph Kappes heute.
TROLLE, BOTS UND MARKETING-CONSULTANTS
2014 war die schwedische Plattform Readmill mit einem ähnlichen Konzept gescheitert, 2015 das Berliner Start-up dotdotdot. Ist der Wunsch, sich mit anderen – Fremden – über Literatur zu unterhalten, einfach weniger groß als angenommen? Die steigenden Nutzerzahlen von Netzwerken wie LovelyBooks oder goodreads sprechen dagegen. „Nun haben aber inzwischen alle Communitys das Problem, dass ihnen ‚All Inclusive‘-Netzwerke wie Facebook, Instagram oder Twitter auch im Bereich des Literaturaustauschs den Rang ablaufen“, erklärt Publizistin Karla Paul. „Das funktioniert hier meist einfacher, schneller, grafisch ansprechender.“Hinzu kommt: Alle anderen sind schon da. Der eigene Freundeskreis, Fremde mit ähnlichen Interessen und ExpertInnen, aber auch Trolle, Bots und Marketing-Consultants.
Facebook, Twitter und Instagram sind klassische Unternehmen. Ihr Ziel ist nicht die Vermittlung von Informationen und Kontakten, sondern Gewinnmaximierung. „Dadurch, dass sich online lediglich zwei bis drei große Plattformen den Markt teilen, sprechen wir von systemrelevanten Infrastrukturen im Sinne der Daseinsvorsorge. Und da macht es einen enormen Unterschied, welchen übergeordneten Zielen diese Plattformen dienen.“Das sagt Volker Oppmann, der Gründer der Plattform mojoreads, einer Kombination aus Community, Online-Buchhandlung und Reader. Die Timeline und der „Wow“-Button, die Möglichkeit, anderen zu folgen oder Gruppen zu gründen, erinnern an klassische soziale Netzwerke. Wie auf goodreads kann man Sammlungen anlegen und Bücher nach einem FünfSterne-System bewerten. Der wichtigste Unterschied: mojoreads ist ein Sozialunternehmen.
EINE AGORA FÜR
DAS DIGITALE ZEITALTER
Auf mojoreads gibt es keine bezahlte Reichweite. Ein Verlag, der dort für seine Bücher werben möchte, muss sich sein Publikum erarbeiten – durch anregende Posts und positive Interaktionen. Sichtbarkeit ist nicht ans Werbebudget gekoppelt. Inhaltlich dominieren dementsprechend politische Sachbücher und die Programme unabhängiger Verlage. Gleichzeitig beteiligt mojoreads seine User finanziell. Wer Inhalte beisteuert, erhält Credits, eine seiteninterne Währung, die man direkt wieder in Bücher investieren kann. Und wann immer ein Beitrag zum Kauf eines Buches führt, gehen zehn Prozent Provision an den Verfasser oder die Verfasserin.
„Den Begriff Social Reading“, sagt mojoreads-Gründer Volker Oppmann, „versuche ich zu meiden wie der Teufel das Weihwasser. Er scheint nämlich mit der Vorstellung verknüpft zu sein, dass es darum gehe, gemeinsam über Literatur zu diskutieren, was aber nicht der Fall ist.“Natürlich dürfe sich gern eine Diskussion am Text entzünden, aber darum gehe es gar nicht. „Es geht darum, andere auf Literatur aufmerksam zu machen. Zum Beispiel, indem ich ein Zitat teile oder eine Textstelle kommentiere. Es geht darum, neue Formen der Literaturvermittlung jenseits der Rezension zu entdecken. Texte in die Timelines von Leuten zu spülen und damit ins öffentliche Bewusstsein zu bringen.“
Das mojoreads-Team möchte eine „Agora für das digitale Zeitalter“etablieren, „eine digitale Universalbibliothek, welche das kollektive Wissen der Menschheit sammelt, erschließt, sowie den Zugang dazu – und damit auch unser digitales Kulturerbe – nachhaltig sichert.“2019 soll die Plattform wachsen, langsam und dauerhaft.
IST LITERATUR NOCH RELEVANT?
Zweimal im Jahr, zur Leipziger und zur Frankfurter Buchmesse, beschwören die Feuilletons den Untergang der Buchbranche und das Ende der Kulturtechnik Lesen. Die Artikel basieren auf Zahlen wie denen, die der Börsenverein im Januar 2018 veröffentlichte: „8,9 Millionen Kunden, die 2014 und 2015 noch mindestens ein Buch gekauft hatten, kauften 2016 keines.“Außerdem gaben die Befragten an, weniger zu lesen: „Die Zahl der regelmäßigen Leser, die mindestens einmal pro Woche ein Buch lesen, ist ebenfalls zurückgegangen: von 49 Prozent im Jahr 2002 auf 42 Prozent im Jahr 2017. Der Rückgang betrifft überproportional die junge (14-29 Jahre) und die mittlere (30-59 Jahre) Altersgruppe – und zwar unabhängig vom Bildungsniveau.“
Karla Paul verweist auf den instagram-Hashtag #bookstagram, die Selfpublishing-Plattform Wattpad und LovelyBooks, auf Buchblogger und Booktuber. Man könnte ihre Liste um Twitter, Facebook und Tumblr ergänzen, wo täglich Literatur entsteht – in neuen, kleinen Formen. „Die nachfolgende Generation interessiert sich nachweislich für Literatur, schreibt und liest und tauscht sich sehr aktiv online darüber aus. Es stirbt dementsprechend definitiv nicht die Literatur an sich aus, sie hat längst alternative Wege und vor allen Dingen Medien gefunden.“
Texte, die einen Nerv treffen, die etwas ausdrücken, das bis dahin ungesagt war, verbreiten sich über diese Medien rasend schnell. Im Dezember 2017 veröffentlichte die Literaturwissenschaftlerin Kristen Roupenian im „New Yorker“eine Kurzgeschichte über schlechten Sex. In der Protagonistin von „Cat Person“fanden sich unzählige Frauen wieder. Unzählige Männer fühlten sich erkannt, ertappt, verleumdet. Roupenian unterschrieb einen Buchvertrag mit Scout Press. Ihr Vorschuss war siebenstellig.
Die dtv Verlagsgesellschaft möchte aus solchen Literaturphänomenen lernen. Ihr neues Imprint bold (Englisch „fett gedruckt“, aber auch „kühn“, „verwegen“) richtet sich an die Zielgruppe, die vermeintlich ins Internet abwan
dert. Unter den ersten sechs Autoren, die Ende Februar bei bold erscheinen, sind Stars wie Hank Greene, der gemeinsam mit seinem Bruder John („Das Schicksal ist ein mieser Verräter“) den YouTube-Kanal Vlogbrothers startete, und Persönlichkeiten mit hoher Reichweite wie der Instagrammer Atticus, mit Maike Voß aber auch eine deutsche Debütantin, die es erst noch zu entdecken gilt. Auch das Marketing ist auf Menschen ausgelegt, die sich selbstverständlich im Internet bewegen. „Bisher wurden Marketing-Aktionen ins Netz verlängert“, erklärt dtv-Marketing-Chefin Theresa Bolkart, „bei bold gehen wir den Weg andersherum. Mit bold sind wir auf allen Plattformen im Netz präsent, in der realen Welt schaffen wir immer wieder neue Postinganlässe, wir verlängern die Online-Aktionen in die Offline-Welt. Wir denken nicht linear, sondern im Spinnennetz.“
DIGITAL ONLY
2014 stellte der Hanser-Verlag sein Digital-Only-Imprint vor. In der Hanser Box sollten Texte renommierter AutorInnen wie Janne Teller, Sybille Berg oder Ilija Trojanow erscheinen, die zu kurz für ein klassisches Buch und zu lang für die Veröffentlichung in einer Zeitung sind – jeden Mittwoch ein neuer. Die Hanser Box wurde 2017 zum letzten Mal gefüllt. In der Reihe Rowohlt Rotation, dem Digital-Only-Imprint des Rowohlt-Verlags, erschienen 2017 noch 26, 2018 nur vier E-Books. Erfolgreicher scheinen E-Book-Programme zu sein, die sich auf eng umrissene Genre-Literatur konzentrieren, etwa Carlsens Romantasy-Label Impress oder beTHRILLED, das Krimi-Imprint von Lübbe. Die E-Book-Verkaufszahlen stagnieren.
Christiane Frohmann, Inhaberin des FrohmannVerlags, sieht hier verpasste Chancen: „E-Books haben einiges drauf, was kein gedrucktes Buch kann – und ich meine nicht Blinken und Soundeffekte, sondern dass sie durch relativ niedrige Produktionskosten experimentelle Freiräume eröffnen –, und so können sie Texten, Ideen und auch AutorInnen in die Welt helfen, die sonst keine Realität hätten.“Anstelle kürzerer Texte etablierter Autoren hätten die Verlage auch „wirklich krasses Zeug veröffentlichen können und mal nicht immer nur das, was die Marketingabteilung freudig durchwinkt. Wir kleinen, damals noch Nur-E-Book-Verlage hatten immer gehofft, dass man vielleicht kooperieren könnte, dass wir mit unserem organischen Verständnis des Digitalen die großen Verlage mit kuratierten Reihen befüttern könnten, aber daran bestand offensichtlich kein Interesse.“
Bei Frohmann erscheinen heute auch Bücher auf Papier. Nur sehr kurze, sehr lange und sehr tagesaktuelle Titel werden ausschließlich als E-Book veröffentlicht. „Ich wäre eigentlich gern digital only geblieben“, so Frohmann, „aber dem stand im Wege, dass in Deutschland Lesenden der Spaß an E-Books so gründlich vermiest wurde, weil es immer gegen ‚das Buch‘ ausgespielt wurde. Ich habe Print auf Leserwunsch begonnen, denn es geht mir ja nicht ums Rechthaben, sondern darum, Texte so zu veröffentlichen, dass sie gelesen werden.“
DER BUCHLADEN UM DIE ECKE IM INTERNET
2014 gründeten Marc Degens, Torsten Franz und Frank Maleu von SuKuLTuR – das ist der Verlag, dessen kleine, gelbe Lesehefte man aus manchen Süßigkeitenautomaten ziehen kann – die E-Book-Boutique Minimore, einen liebevoll kuratierten, unabhängigen Online-Buchladen mit handverlesenem Sortiment. Minimore sollte „erste Anlaufstelle für ausgewählte und außergewöhnliche elektronische Publikationen“werden, kleine, digital publizierende Verlage vernetzen und sichtbar machen. 2016 verschwand Minimore von der Bildfläche. Zu viel Arbeit generierte im Verhältnis zu wenig Umsatz. „Wir haben gewissermaßen in Handarbeit Automatisierung simuliert“, sagt Frank Maleu. Auf seiner Homepage bietet der Verlag seit einiger Zeit auch Bücher anderer unabhängiger Verlage an, etwa von Ach je und mikrotext. Die Arbeit an Minimore hat nie aufgehört, und dieses Jahr wird die Boutique wieder eröffnet.
Einen ungewöhnlichen Ansatz fand der Online-Buchhändler lesio. Wer die App öffnet, wird mit einer Leseprobe von einigen Seiten Länge konfrontiert. Fesselt der Text nicht, schüttelt man sein Smartphone und erhält einen neuen. Gefällt einem, was man liest, nimmt man den Text in eine Favoritenliste auf. Erst dann erfährt man Autor und Titel des Buches – und kann es, wenn man möchte, direkt kaufen. „Wir haben einen Algorithmus entwickelt, der einen unterhaltsamen Mix aus Bestsellern, Neuerscheinungen und durchaus auch kuriosen Titeln zusammenstellt – ohne Wiederholungen“, so lesio-Gründer Michael Damm. „Diesen Algorithmus, der viel Raum für Zufall lässt, entwickeln wir kontinuierlich weiter.“Das Konzept ermöglicht dem Lesenden ein ähnliches Flow-Erlebnis, wie es beim ziellosen Stöbern in einer Buchhandlung entsteht. Und in gewissem Maße Ferien von den eigenen Vorurteilen und Gewohnheiten.
Ein Ende des Lesens ist nicht absehbar, vielleicht nicht einmal möglich. In einer Welt, in der sich Text über alles legt wie eine zweite Haut, entstehen ständig neue Formen des Schreibens und der Verbreitung von Literatur. Wer LeserInnen erreichen möchte, muss sich auf diese Formen einlassen, mit ihnen experimentieren.