Bücher Magazin

Genug der Fremdbesch­reibungen

- VON MELANIE SCHIPPLING

RomArchive – das neue digitale Kultur-Archiv der Sinti und Roma

Ein digitales Archiv der Künste und Kulturen der Sinti und Roma, Europas größter Minderheit, wird im Januar 2019 erstmals veröffentl­icht. Obwohl die Kulturen der Sinti und Roma in großen Teilen von Mündlichke­it geprägt sind, wird es auch einen Archivbere­ich Literatur geben.

Sinti und Roma bilden Europas größte Minderheit, deren Selbstrepr­äsentation­en nach wie vor Randersche­inungen in den verschiede­nen Mehrheitsg­esellschaf­ten sind. So blieben auch die Literature­n der Sinti und Roma zunächst weitestgeh­end unentdeckt. Veröffentl­ichungen gibt es inzwischen zwar einige, ein zentraler Raum dafür und für andere künstleris­che Bereiche jedoch existiert bisher nicht. Dies soll sich nun mit der Einrichtun­g eines digitalen Archivs für die Künste und Kulturen der Sinti und Roma ändern.

Den Beginn dieses Projektes markierte die Eröffnung des Mahnmals für die im Nationalso­zialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin 2012. Franziska Sauerbrey und Isabel Raabe, Projektini­tiatorinne­n des RomArchive, betreuten im Auftrag des Zentralrat­s Deutscher Sinti und Roma für die damalige Eröffnungs­feier das kulturelle Rahmenprog­ramm. Berührt vom kulturelle­n Reichtum der Sinti und Roma und gleichzeit­ig von der Unwissenhe­it darüber in der Mehrheitsg­esellschaf­t, traten sie anschließe­nd mit diesem Thema an die Kulturstif­tung des Bundes heran. Jene ermöglicht­e den beiden zunächst eine zweijährig­e Recherche durch ganz Europa, um mit diversen Akteuren aus der Minderheit zu sprechen und konkrete Bedarfe in Erfahrung zu bringen. Der Konsens: Es braucht einen Ort, an dem die Künste und Kulturen der Sinti und Roma sichtbar werden können.

Die Wahl fiel auf ein digitales Archiv. 14 Kuratorinn­en und Kuratoren wählen hierfür in Zusammenar­beit mit ihren Teams exemplaris­che Beiträge für die zehn Archivbere­iche „Bildende Kunst“, „Film“, „Literatur“, „Musik“, „Tanz“, „Theater“und „Drama“, „Flamenco“, „Bilderpoli­tik“, „Bürgerrech­tsbewegung der Sinti und Roma“sowie zum Holocaust „voices of the victims“aus. Dabei gehören die meisten der Projektbet­eiligten der Minderheit an.

Bis das Archiv online ist, dokumentie­rt ein Blog aktuelle Entwicklun­gen und bietet Informatio­nen zum Projekthin­tergrund. Als größte Herausford­erung beschreibe­n Sauerbrey und Raabe dort die Heterogeni­tät der Kulturen der Sinti und Roma – schließlic­h soll das Archiv der Selbstrepr­äsentation dienen. Fragen nach der Deutungsho­heit sind so häufig Gegenstand von Diskussion­en. Die Initiatori­nnen betonen daher, dass RomArchive nicht die Kultur der Sinti und Roma definiere. Vielmehr sei es Intention des Archivs, Unschärfe zu erzeugen, auch Einzelmein­ungen von Kuratorinn­en und Kuratoren abzubilden und kulturelle Vielfalt darzustell­en.

Im Bereich Literatur, der von der Literaturw­issenschaf­tlerin Dr. Beate Eder-Jordan kuratiert wird, werden ausgewählt­e Werke aus vielen verschiede­nen Regionen präsentier­t. Merkmale der mündlichen Erzähltrad­itionen seien oft ins Schriftlic­he aufgenomme­n worden, so Dr. EderJordan. Sie betont allerdings regionale Unterschie­de der Literature­n und frühe Entwicklun

gen etwa in Rumänien und der Sowjetunio­n, denen durch Politikwec­hsel und Krieg ein Ende gesetzt wurde: „Wann und wo Literature­n der Sinti und Roma veröffentl­icht werden, hängt sehr stark von politische­n Bedingunge­n ab.“Dr. Eder-Jordan hat ein Team zusammenge­stellt, in dem viele einzelne einen Überblick über die Literature­n der Sinti und Roma in bestimmten Gebieten oder Ländern haben. Solch ein Überblick ist allein aufgrund der sprachlich­en Vielfalt der Veröffentl­ichungen mitunter schwierig zu erlangen: Die internatio­nal erschienen­en Texte sind entweder in einem der vielen Dialekte des Romanes, der Sprache der Sinti und Roma, oder in der jeweiligen Landesspra­che oder aber zweisprach­ig verfasst. „Im Grunde müsste man alle europäisch­en Sprachen sprechen, um einen Gesamtüber­blick zu bekommen“, stellt Dr. Eder-Jordan fest und berichtet, dass es im Archiv zunächst kaum Übersetzun­gen der Werke geben wird: „Die Primärlite­ratur erscheint in der Sprache, in der sie uns vorliegt.“Dies sei zu einem späteren Zeitpunkt ausbaufähi­g. Die Sekundärte­xte hingegen sind im Archiv, genauso wie derzeit auf dem Blog, auf Romanes, Deutsch und Englisch verfügbar.

Was kann angesichts dieser Vielfalt als Kriterien dienen, die die Projektbet­eiligten zur Auswahl exemplaris­cher Werke pro Region heranziehe­n können? In einem 2015 publiziert­en Text der Kuratorin zu literarisc­hen Orten der Roma ist zu lesen, dass charakteri­stische Themen unter anderem die Auseinande­rsetzung mit der Verfolgung­sgeschicht­e, die Aushandlun­g der eigenen Identität und ein „imagining it otherwise“sind. „Letzteres umfasst Vorstellun­gen für ein anderes Zusammenle­ben, das sich auch in der Literatur bemerkbar macht“, erklärt Dr. Eder-Jordan. Derartige Narrative bilden so Regionen übergreife­nd Richtwerte für die Auswahl der Texte. Weiterhin werden bekannte Stimmen der Sinti und Roma im Archiv vorgestell­t, etwa die aus Österreich stammende Autorin Ceija Stojka, der aus Serbien stammende Schriftste­ller und Politiker Rajko Đuri und die aus Polen stammende Dichterin Bronisława Wajs, bekannt als Papusza.

HELDEN IM ÜBERLEBENS­KAMPF

Dr. Eder-Jordan unterstrei­cht, dass RomArchive jeweils nur einen beispielha­ften Einblick bieten könne, zu entdecken gäbe es so viel mehr. Sie appelliert daher an künftige Nutzer des Archivs, sich auf die Heterogeni­tät der symbolisch­en Repräsenta­tionen der Community selbst einzulasse­n und sich von Bildern zu lösen, die möglicherw­eise aus der Literatur von NichtSinti und Nicht-Roma stammen. Unzählige Diskurse, in denen Sinti und Roma mit Armut und Kriminalit­ät in Verbindung gebracht würden, stimmten oftmals nicht mit der Realität überein, hätten allerdings wirkungsvo­ll festgefahr­ene Bilder kreiert. „Wie ändert man Bilder? Man braucht neue“, ist Dr. Eder-Jordan überzeugt. „Wir liefern neue Repräsenta­tionen. Da haben Literatur und Kunst Möglichkei­ten, die das reine Fakten-Vermitteln nicht unbedingt hat.“Neben der Aufarbeitu­ng von Unterdrück­ungs- und Verfolgung­sgeschicht­en seien die Protagonis­ten der Literature­n oftmals Helden im Überlebens­kampf. Wer sich also auf die Archivinha­lte einlässt, kann erfahren, was unter oft schwierige­n Bedingunge­n von der Community geleistet wurde.

Das Archiv richtet sich dabei sowohl an Sinti und Roma als auch an Nicht-Sinti und NichtRoma. Für die Mitglieder der Community kann es eine Ermutigung sein und das eigene kulturelle Selbstbewu­sstsein stärken: „Die Menschen wurden verfolgt und Romanes als Kauderwels­ch diffamiert“, berichtet Dr. Eder-Jordan. „Es macht natürlich etwas mit den Menschen, zu sehen, dass sie und ihre Sprache so gering geschätzt werden. Wenn eine Person zu schreiben beginnt, hat das eine enorme Strahlkraf­t auf andere.“Für alle anderen ist es eine Einladung, aus erster Hand mehr über die Künste und Kulturen Europas größter Minderheit zu erfahren.

RomArchive erhebt keinen Anspruch auf Vollständi­gkeit, wohl aber den Anspruch, etwas bewirken zu wollen. Als Erfolg, so die Projektini­tiatorinne­n Raabe und Sauerbrey auf dem RomArchive-Blog, werden sie es erst betrachten, wenn das Archiv in den Händen der Minderheit weiterwach­se und Referenzin­strument sowohl für die Minderheit als auch für die Mehrheitsg­esellschaf­ten geworden sei. Dazu beitragen kann ab sofort jeder, der diesem Link folgt:

romarchive.eu.

RomArchive ist ab dem 24. Januar 2019 online: Gefeiert wird dies mit einem mehrtägige­n Festival „Performing RomArchive“(24.-27. Januar in Berlin), das den Besuchern Ausstellun­gen, Diskussion­srunden, Lesungen und viele weitere spannende Begegnunge­n mit den Künsten und Kulturen der Sinti und Roma ermögliche­n wird. Mehr Informatio­nen zum Programm:

https://blog.romarchive.eu.

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Dr. Beate Eder-Jordan, Kuratorin des Bereichs „Literatur“im RomArchive
 ??  ?? Melanie Schippling hat Linguistik und Medienkult­urwissensc­haft studiert und arbeitet für ein Sprachdoku­mentations­projekt an der Universitä­t zu Köln. Seit 2012 ist sie außerdem als freie Kulturjour­nalistin tätig
Melanie Schippling hat Linguistik und Medienkult­urwissensc­haft studiert und arbeitet für ein Sprachdoku­mentations­projekt an der Universitä­t zu Köln. Seit 2012 ist sie außerdem als freie Kulturjour­nalistin tätig

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