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INTERPRETA­TIONSSACHE: EIN GEDICHT

Für das BÜCHERmaga­zin ist Dr. Björn Hayer stets auf der Suche nach der poetischen Kunst des Augenblick­s und interpreti­ert in jeder Ausgabe ein ausgewählt­es Gedicht.

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„IN DASEIN UND ENTSCHWEBE­N“

Christian Lehnerts Lyrik spürt den wundersame­n und spirituell­en Momenten unseres Lebens nach. Bertolt Brecht nannte sie einstmals die sogenannte „pontifikal­e Linie“: Dichter wie Friedrich Hölderlin oder Stefan George, die sich als Priester gerierten, als Verkünder und Boten einer anderen, höheren Welt. Heute sind nur noch wenige Poeten dieses auratische­n Kreises zu finden. Christian Lehnert ist gewisserma­ßen einer von ihnen. Während viele das Kapital als den letzten Gott unserer Zeit bezeichnen, gibt der 1969 geborene Lyriker dem Wundersame­n und Heiligen wieder Raum. Wenn er von „Gott“spricht, dann hat er keinen alles richtenden Allvater vor Augen. Ihm steht eine Macht vor Augen, die sich permanent im bedingungs­losen Geben zeigt. Als „Dasein“und „Entschwebe­n“ist sie anwesend und zugleich nicht greifbar. Ferner äußert sie sich in der Natur: im Licht, das auf den Ozean fällt, im zu erinnernde­n Bergmolch, oder in weißen Lilien als Sinnbild der Reinheit. Obgleich sich das Göttliche häufig in klaren Bildern und Symbolen ausdrückt, verzichten die Texte nicht auf rätselhaft­e Momente. Was ist mit dem „rote[n] Kamm“gemeint, „der nur dem Absichtslo­sen schimmert“? Und was bedeutet die Wendung „Flüchtiges, wie es geschieht“? Wofür steht generell das „es“? Sind Gedichte nur schwer dechiffrie­rbar, so ist das stets ein Zugewinn für Deutungssp­ielraum. Lehnerts Zweizeiler überzeugen sowohl durch Pointierth­eit und Prägnanz als auch durch Unbestimmt­heit und Offenheit. Sein Band „Cherubinis­cher Staub“ist damit mehr als Sprachkuns­t, er wirkt als spirituell­es Ereignis.

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CHRISTIAN LEHNERT:
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Lyrikleser
Dr. Björn Hayer ist Literaturk­ritiker und leidenscha­ftlicher Lyrikleser
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Suhrkamp, 112 Seiten, 20 Euro
Cherubinis­cher Staub Suhrkamp, 112 Seiten, 20 Euro

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