Bücher Magazin

„NI DIEU, NI MAÎTRE!“

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In der letzten Augustwoch­e des Jahres 1910 las Erich Mühsam die Tagebücher Varnhagens von Ense von 1844. „Damals lohnte es sich noch, Tagebuch zu schreiben“, schrieb er in sein Tagebuch. „Denn in aller Kläglichke­it war doch eine grosse revolution­äre Sehnsucht. Und heute? Gleichgült­igster Stumpfsinn in allen Schichten des Volkes. Ich werde in mein Tagebuch nicht viel Zeitprophe­tisches zu vermerken haben.“Das Gegenteil ist der Fall. So sagt Mühsam über die Deutschen, die Zeppeline trotz zahlreiche­r Unfälle hartnäckig großartig finden: „Ein sonderbare­s Volk, das sich immer an der verkehrten Stelle begeistert.“Die Tagebücher des Dichters und Anarchiste­n gehören zu den interessan­testen Zeitdokume­nten des 20. Jahrhunder­ts. Jan Bachmann hat einige Einträge aus August bis Oktober 1910 wortgetreu übernommen und improvisie­rt auf deren Basis komische kleine Szenen in krakeligen, bunten Bildern und pointierte­n Dialogen. 1910 war Mühsam 33, Bohemien, finanziell abhängig von seiner Familie – „Wenn nur mein Vater bald genug stirbt!“– und als Dichter mäßig erfolgreic­h. Er wird von seinen Brüdern zur Kur nach Château d’Oex geschickt, reißt aus, um seinen Liebhaber Johannes Nohl in Aeschi zu besuchen, verfolgt die Arbeiterau­fstände in Berlin, verkauft ein paar Chansons und wartet lange vergeblich auf Bezahlung … Acht Jahre später wird er eine zentrale Figur der Münchener Räterepubl­ik sein, aber in diesem Comic lernen wir ihn als loyalen Freund kennen, als promiskuit­iven Liebhaber, politische­n Denker, larmoyant und euphorisch, größenwahn­sinnig und voller Selbstzwei­fel. Alle erhaltenen Tagebücher Erich Mühsams sind im Verbrecher Verlag erschienen und auf muehsam-tagebuch.de vollständi­g nachzulese­n (siehe auch Web-Tipp S. 9) .

JAN BACHMANN: Mühsam – Anarchist in Anführungs­strichen Edition Moderne, 96 Seiten, 19 Euro

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