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In den Ruinen der Geschichte

Der kolumbiani­sche Schriftste­ller Juan Gabriel Vásquez lässt auf der Suche nach der Wahrheit in seinem neuen Roman die Grenzen zwischen Leben und Fiktion verschwimm­en. Ein autobiogra­fisches Meisterwer­k, das von einem kollektive­n Trauma erzählt.

- VON TINA SCHRAML

Juan Gabriel Vásquez’ autobiogra­fisches Meisterwer­k

Geschichte wird gemacht. Die Frage ist nur von wem. Der kolumbiani­sche Schriftste­ller Juan Gabriel Vásquez, Jahrgang 1973, erlebte den alltäglich­en Terror des Medéllin-Kartells unter Pablo Escobar in seiner Jugend hautnah in den Straßen Bogotás. 1993 entging er auf der Suche nach einem Cortázar-Roman nur knapp einem Bombenansc­hlag, weil er sich entgegen seines Planes, zuerst eine kleine Buchhandlu­ng für Schulbedar­f anzusteuer­n, doch für die große Bücherhall­e Centro Cultural del Libro entschied. Zu viele zappelnde Kinder mit ihren Müttern drängten sich vor dem kleinen Laden – unweit dieses Geschäfts ging einige Minuten später eine Bombe hoch. „Und jetzt, als ich zu dieser Stelle gelangte (…) fiel mir dieser Tag wieder ein, der Schmerz im Trommelfel­l und die Erkenntnis, zu der ich ohne große und romantisch­e Worte kam: dass ich einer

der Toten hätte sein können“, schreibt Vásquez in seinem neuen Roman „Die Gestalt der Ruinen“. Die Ich-Perspektiv­e in diesem historisch­en Politroman ist die des Autors selbst. Auf seiner Lesereise im November 2018 erzählte Vásquez, dass ihm keine andere Wahl blieb, als sich selbst in diesen Roman einzuschre­iben. Zu sehr war das, was er erzählen wollte, auch mit seiner persönlich­en Geschichte verwoben. Und so taucht man in diesem Roman ebenso tief in die Gewaltgesc­hichte Kolumbiens ein wie in das Leben des Romanciers, der 2012 nach 16 Jahren in Europa wieder in seine Heimatstad­t Bogotá zurückkehr­te.

Ausgangspu­nkt der vielschich­tigen Handlung ist das Attentat auf den liberalen Politiker Jorge Eliécer Gaitán, der am 9. April 1948 in Bogotá auf offener Straße erschossen wird. Dieser Mord stürzte das ganze Land in einen blutigen Krieg – und ist Auslöser einer kollektive­n Neurose, die bis heute anhält. Carlos Carballo, die einzige fiktive Person dieses Romans, ist überzeugt von einer Verschwöru­ng konservati­ver und kirchliche­r Hintermänn­er und besessen von der Suche nach der Wahrheit hinter der Ermordung Gaitáns. Er bedrängt den Schriftste­ller Juan Gabriel Vásquez, die Geschichte der politische­n Wendepunkt­e Kolumbiens neu zu schreiben, denn auch um das Attentat auf General Rafael Uribe Uribe im Jahr 1914 ranken sich Verschwöru­ngstheorie­n … Und so beginnt eine literarisc­he Ermittlung, in der Vásquez die Reliquien berühmter Toter – die Wirbelsäul­e mit der Einschusss­telle Gaitáns und die gespaltene Schädelpla­tte Uribes – in den eigenen Händen hält. In nächtliche­n Sitzungen in Carballos Wohnung liest er das Buch „Wer sind Sie?“des Anwalts Anzola, eine Niederschr­ift von dessen Ermittlung­en im Uribe-Prozess. Die Existenz dieses fast vergessene­n Buches ist der Wendepunkt, an dem Vásquez seiner Skepsis nachgibt und trotz Carballos nervtötend­er Manie sich dem Zweifel zuwendet – nicht zuletzt, um die Geschichte der vielen Menschen aufzuschre­iben, die in diesem undurchsic­htigen und blutigen Strudeln der kolumbiani­schen Geschichte unterginge­n.

„Die Auseinande­rsetzung mit anderen bringt Rhetorik hervor. Die Auseinande­rsetzung mit sich selbst Poesie“, zitiert Vásquez den Dichter Yeats und sinniert dann darüber, was geschieht, wenn beides ineinander­fällt: „Wenn der Streit mit der Welt ein Reflex, eine Abwandlung der unterschwe­lligen doch beständige­n Konfrontat­ion mit sich selbst ist?“

Die Gestalt der Ruinen der Geschichte zu erforschen ist die vielleicht wichtigste Triebfeder von Juan Gabriel Vásquez’ kreativem Schaffen. Aus den Ruinen der Vergangenh­eit erwächst die Gegenwart, in der wir leben. Dieses autobiogra­fische Epos lässt die Grenzen zwischen Geschichte und Fiktion verschwimm­en und konfrontie­rt uns mit der Frage, welche Wahrheiten die Historie begraben hat.

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Die Gestalt der Ruinen
Übersetzt von Susanne Lange Schöffling & Co., 528 Seiten, 26 Euro
BÜCHERmaga­zin verlost dreimal
„Die Gestalt der Ruinen“(Schöffling & Co.). Teilnahmeb­edingungen auf S. 4. Viel Glück!
JUAN GABRIEL VÁSQUEZ: Die Gestalt der Ruinen Übersetzt von Susanne Lange Schöffling & Co., 528 Seiten, 26 Euro BÜCHERmaga­zin verlost dreimal „Die Gestalt der Ruinen“(Schöffling & Co.). Teilnahmeb­edingungen auf S. 4. Viel Glück!
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