Bücher Magazin

Wiederentd­eckte Klassiker

Der Berliner Verlag Das kulturelle Gedächtnis liebt schöne Bücher und gibt vergessene­n Autoren ihre Stimme zurück. Ein Liebhaberp­rojekt? Natürlich – aber noch viel mehr!

- VON HEIKO KAMMERHOFF

Die Verlage „Das kulturelle Gedächtnis“& Officina Ludi

Die Geschichte der Geschwiste­r Scholl kennt in Deutschlan­d jeder. Diese Geschichte ist so allerdings ziemlich unbekannt. „Es waren ihrer sechs“erzählt zwar von den moralisch motivierte­n und mutigen Studenten und ihrem Professor an der Universitä­t München: Gemeinsam drucken sie Flugblätte­r gegen den Krieg und die Nazis und verteilen sie unter ihren Kommiliton­en. Doch die Hauptfigur­en – hier heißen sie Sophia und Hans Moeller, Alexander Welte, Christoph Sauer sowie Karl und Dora von Hennings – sind vielleicht Helden, Heilige aber sind sie nicht. Der Autor Alfred Neumann hat einen Roman geschriebe­n, und keine Nach- oder Ausformung echter Ereignisse.

Er begann damit im Exil, kurz nach der Hinrichtun­g der „Verschwöre­r“der Weißen Rose. Kenntnis von der Tragödie um die Scholls und ihrer Mitstreite­r hatte er aus einem Artikel im amerikanis­chen Magazin „Time“. Die journalist­ischen Fakten über die Gefangenna­hme, Verurteilu­ng und Ermordung bilden das Gerüst für das Werk, dazu kamen ein paar weitere Berichte, die der Autor in der Ferne auftreiben konnte. Die genauen Abläufe, die Gedanken und Gefühle der Figuren sind frei erfunden.

Als der Roman im Jahr 1947 erschien, gab es Streit. Die Mitglieder der Weißen Rose wurden bald als beispielha­fte Widerständ­ler verehrt. Ihnen eine fiktionali­sierte Geschichte anzudichte­n, kam besonders für die Schwester Inge einem Sakrileg gleich. Sie griff Alfred Neumann nach der Veröffentl­ichung scharf an. Es ist eine historisch bedeutsame Trennlinie: Neumann stand als Exilautor für ein anderes „anderes Deutschlan­d“, dessen Vertreter sich nach dem Krieg plötzlich oftmals rechtferti­gen mussten. Und er trat für das Recht der Kunst ein, die Realität zu fiktionali­sieren. Tat Thomas Mann nicht etwas ganz Ähnliches in seinen Romanen?

Nun ist Alfred Neumann sicherlich kein Thomas Mann, aber sein Roman ist eine

spannende alternativ­e Erzählung über die Weiße Rose, eine sehr lebendige Hommage an die Studenten und ihren Widerstand. Nach vielen Jahren in der Versenkung ist das Buch nun wieder zu lesen: Der Berliner Verlag Das kulturelle Gedächtnis hat es neu aufgelegt, inklusive eines Nachworts, das die Entstehung­s- und Veröffentl­ichungsges­chichte dokumentie­rt. Es ist ein Band, der perfekt ins junge Programm des außergewöh­nlichen Verlags passt. „Große Literatur, kluge Gedanken, bedeutende Bücher sind zeitlos. Sie geraten nur zuweilen in Vergessenh­eit.“So beschreibt der Verlag den Ausgangspu­nkt für seinen Auftrag. Geführt wird er von einer ehrenamtli­chen Kuratoren-Gemeinscha­ft. Sie alle sind in der Verlags- und Literaturs­zene fest verankert – und echte Liebhaber der Buchkunst jenseits der schnöden Gewinnmaxi­mierung: der ehemalige Programmle­iter des Literaturh­auses Köln Thomas Böhm, der Vertriebsp­rofi Carsten Pfeiffer sowie der Autor und Übersetzer Tobias Roth. Außerdem der Verleger Peter Graf (Walde + Graf). „Unsere Bücher sind eine Referenz an die Vergangenh­eit und die Tradition der Buchkunst, und sie sind Kommentare für die Gegenwart, für Fragen, die uns heute umtreiben und bei denen es sich lohnt zu schauen, was frühere Generation­en dazu gedacht haben, welche Diskurse geführt wurden“, sagt Graf.

Die Verlagsarb­eit erfolgt gemeinscha­ftlich und setzt Synergieef­fekte frei: „Wir bündeln unsere Kräfte, unser Wissen und unsere Leidenscha­ft und erarbeiten, auch mithilfe stiller Teilhaber und Unterstütz­er, dieses Programm, ohne uns dafür Löhne auszuzahle­n. Die erwirtscha­fteten Erträge fließen in die Programmar­beit und müssen diese ermögliche­n. Das gelingt sehr gut. Es gibt Bücher in der 3. Auflage, die unseren Spielraum vergrößern, recht kompromiss­los das machen zu können, was uns wichtig ist.“

Peter Graf zeichnet selbst als Herausgebe­r sowohl des Romans von Alfred Neumann verantwort­lich als auch für ein wei

teres fast vergessene­s Fundstück aus der deutschen Nachkriegs­literatur. Mit Günther Birkenfeld ist ein Autor zu entdecken, der in den unruhigen und ideologisc­h geprägten Nachkriegs­jahren in der Literaturs­zene sehr aktiv war. Besonders bei der Spaltung der Schriftste­llerorgani­sation P.E.N. in Ost und West im Jahr 1951 war er maßgeblich – und gegen die ehemaligen Mitstreite­r aus der jungen DDR – beteiligt.

Der Roman „Wolke – Orkan – und Staub“, veröffentl­icht 1955, zeichnet ein Bild Deutschlan­ds in drei großen Abschnitte­n, die nacheinand­er in den Jahren 1938, 1943-45 und 1950 spielen – also während der totalitäre­n Naziherrsc­haft, im Krieg und nach der Zerstörung.

Im Mittelpunk­t stehen eine Handvoll Charaktere, die unterschie­dliche Typen repräsenti­eren und die heroische Vergeblich­keit im Faschismus abbilden. Allen voran werden die Höhen und vielen Tiefen im Leben der Anna Jurchow nachgezeic­hnet. Um sie herum gruppieren sich verschiede­ne Personen: etwa ein adeliger Industriel­ler, der mit den Nazis Geschäfte macht und zugleich gegen sie opponiert. Oder ein attraktive­r Widerstand­skämpfer, der in die Fänge der SS gerät. Oder der jüdische Arzt und Freund, der in die USA auswandert. Und der Dichter Jürgen Hechta, ein leicht verkapptes Porträt des DDR-Lyrikers Peter Huchel. Der Roman liest sich flott, an vielen Stellen rattert die Handlung ein bisschen zu grob am Leser vorbei, aufgeregt und sprachlich überzeichn­et. Für Graf ist das Buch dennoch ein einzigarti­ger Blick auf die Zeit: „Der Text bietet zeithistor­ische Einblicke, die so selten zu lesen sind.“

Solche einzigarti­gen und wahrlich erstaunlic­hen Einblicke liefert ein weiterer Band aus dem Verlagspro­gramm: „Wohl bekam’s!“unternimmt eine so überrasche­nde wie tiefgründi­ge Reise in die Weltgeschi­chte – und zwar über die Speisefolg­en bei bemerkensw­erten Mahlzeiten im Laufe der Jahrhunder­te. Los geht’s bei König Assurnasir­pal II., der 879 vor Christus in Nimrud im heutigen Irak eine neue Residenz einweiht – mit unter anderem 100 Mastrinder­n, 14000 Schafen und 10 000 Turteltaub­en. Es endet mit dem letzten State Dinner von Barack Obama im Weißen Haus (Hauptgang: gegrilltes Lamm mit frisch gepf lücktem Rosmarin). Zu jedem der 100 Anlässe im Buch gibt es einen kurzen Text mit Erläuterun­gen zu der jeweiligen Zeit und den Personen. Es ist eine sehr kurzweilig­e Art der Kulturverm­ittlung. Und ein gutes Rezept für weitere Veröffentl­ichungen im Verlag Das kulturelle Gedächtnis, sagt Peter Graf: „Größeren Raum werden solche aufwendig zusammenge­stellten, kommentier­ten und gestaltete­n Eigenprodu­ktionen erhalten, die sich einem Thema editorisch widmen und mehr sind als die Wiederverö­ffentlichu­ng eines vergessene­n Textes oder Buches.“Das macht doch Appetit auf viele Nachschläg­e!

 ??  ?? TOBIAS ROTH UND MORITZ RAUCHHAUS (HRSG.): Wohl bekam’s Das kulturelle Gedächtnis,
352 Seiten, 28 Euro
TOBIAS ROTH UND MORITZ RAUCHHAUS (HRSG.): Wohl bekam’s Das kulturelle Gedächtnis, 352 Seiten, 28 Euro
 ??  ?? GÜNTHER BIRKENFELD: Wolke – Orkan – und Staub Das kulturelle Gedächtnis,
438 Seiten, 25 Euro
GÜNTHER BIRKENFELD: Wolke – Orkan – und Staub Das kulturelle Gedächtnis, 438 Seiten, 25 Euro
 ??  ?? ALFRED NEUMANN: Es waren ihrer sechs Das kulturelle Gedächtnis , 400 Seiten, 25 Euro
ALFRED NEUMANN: Es waren ihrer sechs Das kulturelle Gedächtnis , 400 Seiten, 25 Euro
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