Spürhund der menschlichen Seele
Die Edition Simenon lässt Maigret lebendig werden
Die „Edition Simenon“aus dem DAV-Verlag würdigt den belgischen Schriftsteller Georges Simenon. Walter Kreye leiht seinem berühmtesten Kommissar Maigret seine raue Stimme und es gibt auch Nicht-Maigret-Romane zu entdecken.
Pfeife im Mund, Melone auf dem Kopf, Samtkragen am Mantel, gestatten: Maigret. Der gediegene Kommissar aus Paris ist eine Ikone der Kriminalliteratur. Getrost darf man ihn mit Sherlock Holmes oder Hercule Poirot in einem Atemzug nennen. Von diesen drei Genre-Größen war Maigret der mit Abstand umtriebigste Kriminalist. Keiner der anderen hat annähernd so viele Fälle gelöst. Der Reputation seines Schöpfers aber hat das nur wenig genutzt.
Der belgische Schriftsteller Georges Simenon, der zu Beginn seiner Laufbahn unter Pseudonym unzählige Groschenromane veröffentlichte, stand zeit seines Lebens im Ruf, ein Vielschreiber zu sein. Überbordend kreativ, Dutzende Romane pro Jahr, besessen, aber eben auch oberflächlich, unliterarisch, mit schlichtem Satzbau und sparsamem Wortschatz. Fast so, als habe er den Rat der französischen Schriftstellerin Colette überbeherzigt, die ihm als Redakteurin von „Le Matin“in den 1920er-Jahren dazu geraten haben soll, „alles Literarische“zu streichen.
Die zwischen 1931 und 1972 veröffentlichten „Maigret“-Romane dienten Simenon zunächst als Brücke von der Kolportage zur anspruchsvollen Literatur, die ihm jedoch nie den ersehnten Nobelpreis einbrachte. Was als Übergang geplant war, wuchs sich zur Herzkammer seines Schaffens aus. Simenon, das ist bis heute nicht nur, aber vor allem Maigret.
Mit der „Edition Simenon“setzt der DAV-Verlag einem Schriftsteller ein akustisches Denkmal, der vielen noch immer als ein Rätsel und Sonderfall der Literatur gilt. Alle 75 „Maigret“Romane und ausgewählte „Maigret“-Erzählungen werden – leider nicht in chronologischer Folge – bis Herbst 2020 nach und nach als Hörbücher veröffentlicht. Der krimierprobte Fernsehschauspieler Walter Kreye (u. a. „Der Alte“) leiht Maigret in den ungekürzten Lesungen seine raue, brausende Stimme. Dabei klingt er so nachdenklich knisternd, wie man sich das für einen passionierten Pfeifenraucher wünscht.
Überhaupt dominiert das nostalgische Flair diese einzigartige Reihe. Die Bilder zu Kreyes kraftvoll soigniertem Vortrag malt man sich fast zwangsläufig in jenem grobkörnigen SchwarzWeiß, in dem auch die liebevoll gestalteten, allerdings nur sparsam ausgestatteten Hörbücher gehalten sind.
Das leicht antiquierte Auftreten Maigrets garniert seinen legendären Instinkt. Die Lösung sucht er meist in der Psyche der Täter, ihrem Motiv. „Ich frage mich, wie alles angefangen hat. Warum hat er am 2. Februar plötzlich aufgehört, ein harmloser Bürger zu sein, um ein gefährlicher Verbrecher zu werden?“, rätselt der Kommissar in „Maigret stellt eine Falle“über einen Serienkiller.
Als Spürhund der menschlichen Seele ist Maigret ein Geistesverwandter seines Schöpfers. Das zeigt sich auch in den Nicht-MaigretRomanen, die die Simenon-Edition ergänzen. So etwa in den von Christian Berkel mit kühler Brillanz vorgetragenen frühen Fällen des Inspektors G7, die erstmals in deutscher Sprache vorliegen. Oder im 2014 von Mathieu Amalric verfilmten Erotikkrimi „Das blaue Zimmer“, in dem Simenon den Versuch, eine Affäre ohne Fragen zu führen, mörderisch scheitern lässt. Und nicht zuletzt im autobiografischen „Brief an meine Mutter“.
Darin erinnert sich der Autor, wie seine Mutter ihn an ihrem Sterbebett begrüßte: „Warum bist du gekommen, Georges?“Die unerbittlichen Antworten, die er anschließend an seine verstorbene Mutter richtet, liest Ulrich Noethen mit einer melancholischen Eindringlichkeit, die schmerzlich unter die Haut geht: „Wir haben uns zu deinen Lebzeiten nie gemocht. Das weißt du. Wir beide haben nur so getan als ob.“