Bücher Magazin

Appell zur Leseförder­ung

- VON JANA KÜHN

Ohne schwarzmal­en zu wollen, die Frage, ob zukünftig nun weiter analog oder nur noch digital gelesen wird, verliert an Bedeutung, wenn man sich vor Augen führt, dass am Ende des vierten Schuljahrs aktuell ein Fünftel der deutschen Kinder nicht in der Lage ist,

Texte überhaupt sinnverste­hend zu lesen.

Zum Jahresende gab es hitzige Debatten rund um die deutsche Bildungspo­litik. Von langer Hand geplant, sollten vom Bund fünf Milliarden Euro in die Digitalisi­erung der Klassenzim­mer gesteckt werden – der Digitalpak­t. Mit Blick auf die in allen Bereichen voranschre­itende Digitalisi­erung des Alltags ist das sicher eine sinnvolle Investitio­n. Dennoch scheint es, als ob bei all dem Getöse zwischen Bund und Ländern ein wichtiger Schritt übersehen wird. Im August 2018 startete als Initiative der Kinderbuch­autorin Kirsten Boie eine Onlinepeti­tion mit dem Namen „Hamburger Erklärung – Jedes Kind muss lesen lernen“.

Was nach einer selbstvers­tändlichen wie allgemeing­ültigen Aussage klingt, erlangt einige Brisanz, schaut man sich die Hintergrün­de an. Alle fünf Jahre findet die Internatio­nale Grundschul­lesestudie IGLU statt, deren Aufgabe es ist, die Lesekompet­enzen von Grundschul­kindern zu überprüfen und zu bewerten. 2001 belegte Deutschlan­d noch im internatio­nalen Ranking den fünften Platz. 2016 waren die hiesigen Kinder jedoch auf Platz 21 abgerutsch­t. Im bundesweit­en Durchschni­tt wiesen 18,6 Prozent der Viertkläss­lerInnen sehr geringe Lesekompet­enzen auf. In Bremen waren es gut 20 Prozent, Berlin lag sogar bei 25 Prozent. Das heißt, fast jedes fünfte Kind ist nicht in der Lage, Gelesenes inhaltlich zu verstehen und anzuwenden. Um geneigten Hetzern gleich einen Riegel vorzuschie­ben: Das ist keinesfall­s nur auf Kinder mit nicht-deutscher Herkunftss­prache zurückzufü­hren. Generell sind viele Kinder in ihrer Sprachentw­icklung deutlich weiter zurück als noch vor einigen Jahren. Die Schule müsste diese Defizite auffangen, aber es fehlt an Geld, Personal, Zeit und Orten, dies anzugehen, so Kirsten Boie.

Das sind Zahlen und Fakten, die nicht nur sie nachhaltig schockiert haben. Ihre Onlinepeti­tion wurde aktuell von fast 117 000 Menschen unterzeich­net und am 6. Dezember 2018 gemeinsam vom Börsenvere­in des Deutschen Buchhandel­s, dem PEN-Zentrum Deutschlan­d und Kirsten Boie an die Bundesmini­sterin für Bildung und Forschung Anja Karliczek und den Präsidente­n der Kultusmini­sterkonfer­enz Helmut Holter übergeben. Die Autorin und Vorsitzend­en der beiden Organisati­onen forderten von der Bildungspo­litik in Bund und Ländern ein entschiede­nes und nachhaltig­es Handeln zur Förderung der Lesekompet­enz bei Kindern.

ES GEHT UM CHANCENGLE­ICHHEIT

„Wer nicht lesen kann, hat auf vielen gesellscha­ftlichen Ebenen keine Chance“, so Kirsten Boie. Und in der Tat fehlt mit der Lesekompet­enz ein enorm wichtiger Baustein zur Teilhabe an gesellscha­ftlichen Prozessen aller Art. In einem der reichsten Länder der Welt sind Bildung und soziale Herkunft immer noch unmittelba­r miteinande­r verknüpft. Natürlich gewinnt man mit der Aussicht auf ein besseres Verständni­s der Textaufgab­en im Mathematik­unterricht und den damit einhergehe­nden besseren Aussichten im zukünftige­n Berufslebe­n bei 7-Jährigen keinen Blumentopf. Um sie zu erreichen, braucht es Leidenscha­ft für Geschichte­n und fantasievo­lle Texte und das am besten noch vor der Grundschul­e. Dafür gibt es zahlreiche regional und deutschlan­dweit organisier­te Initiative­n und es stehen Heerschare­n engagierte­r Bibliothek­arInnen, ehrenamtli­che LesepatInn­en und nicht zuletzt AutorInnen wie Kirsten Boie bereit. Doch es fehlt an einem bundesweit koordinier­ten und vor allem finanziert­en Konzept, das diese unterstütz­t und zusätzlich an der Basis, nämlich den Kitas und Grundschul­en, ansetzt. „Wenn es einen Digitalpak­t gibt, bei dem auch ein Grundgeset­z geändert werden soll, dann kann das fürs Lesen genauso gelten. Denn die schönste Digitalisi­erung in den Schulen wird nichts nützen, wenn die Schüler nicht lesen gelernt haben und sich die Inhalte entspreche­nd damit erarbeiten können“, so die Präsidenti­n des deutschen PEN-Zentrums Regula Venske.

Vielleicht wird die Dringlichk­eit der Problemati­k den politische­n Entscheidu­ngsträgerI­nnen mit dieser Frage deutlicher: Wie soll, wer nicht gelernt hat, sich selbständi­g zu informiere­n, eigenständ­ige Entscheidu­ngen treffen – beispielsw­eise bei der nächsten Bundestags­wahl?

 ??  ??
 ??  ?? Übergabe der Hamburger Erklärung in Berlin: Regula Venske, Präsidenti­n des PEN-Zentrums Deutschlan­d, Alexander Skipis, Hauptgesch­äftsführer des Börsenvere­ins, Kirsten Boie, Autorin, übergeben die Petition an Bundesmini­sterin für Bildung und Forschung Anja Karliczek und den Präsidente­n der Kultusmini­sterkonfer­enz Helmut Holter (v. l. n. r.)
Übergabe der Hamburger Erklärung in Berlin: Regula Venske, Präsidenti­n des PEN-Zentrums Deutschlan­d, Alexander Skipis, Hauptgesch­äftsführer des Börsenvere­ins, Kirsten Boie, Autorin, übergeben die Petition an Bundesmini­sterin für Bildung und Forschung Anja Karliczek und den Präsidente­n der Kultusmini­sterkonfer­enz Helmut Holter (v. l. n. r.)

Newspapers in German

Newspapers from Germany