Ins Netz gegangen
DICHTER, ANARCHIST UND VIELES ANDERE
Erich Mühsam wurde 1934 im KZ Oranienburg totgeschlagen. Seine Witwe Kreszentia (Zenzl) floh am Tag seiner Beerdigung in die Tschechoslowakei.
Die Briefe, Manuskripte und Tagebücher ihres Mannes schmuggelte sie als Diplomatengepäck über die Grenze. In Prag berichtete sie der internationalen Presse von den ersten deutschen Konzentrationslagern, fand aber wenig Beachtung. Auf Einladung der Roten Hilfe reiste sie 1935 nach Moskau, in der Hoffnung, die Arbeiten ihres Mannes dort veröffentlichen zu können. Mühsams Schriften wurden beschlagnahmt und nach Material gegen „unzuverlässige Elemente“unter den deutschen Exilanten durchsucht. Einige Tagebücher aus den Jahren 1910/11 und 1916 bis 1919 sowie viele Briefe sind bis heute nicht wieder aufgetaucht. Zenzl Mühsam wurde vom Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten verhaftet und „konterrevolutionärer trotzkistischer Aktivitäten“angeklagt. Die nächsten 20 Jahre ihres Lebens verbrachte sie in verschiedenen sowjetischen Arbeitslagern und in der Verbannung in Sibirien. 1956 durfte sie ausreisen – in die DDR. Die Mikrofilmkopien der 42 verbliebenen TagebuchHefte, die Zenzl Mühsam hatte anfertigen lassen, hielt die Akademie der Künste unter Verschluss. Ende der Siebzigerjahre begann der DDR-Verlag Volk und
Welt, die Tagebücher editorisch aufzuarbeiten. Diese Arbeit war noch nicht abgeschlossen, als die DDR unterging. Lektor Chris Hirte suchte lange vergeblich nach einem Verlag, der die Tagebücher vollständig veröffentlichen würde, und initiierte schließlich diese werkgetreue Online-Edition. Die digitale Form ist großartig für historische Aufzeichnungen: Klickt man auf das Datum eines Eintrags, erscheint ein Bild des handschriftlichen Originals. Namen sind klickbar und verweisen auf Kurzbiografien, Fotos, Wikipedia-Einträge. Die Leserschaft ist ausdrücklich zur Mitarbeit eingeladen. Parallel erscheinen die Tagebücher auf Papier und als E-Books im Verbrecher Verlag. „Der Anarchist, Dichter und Zeitchronist Erich Mühsam tritt aus dem Schatten der Geschichte und darf weiterwirken fast wie zu Lebzeiten.“(siehe auch S. 78, Graphic Novel-Tipp)