Bücher Magazin

Jan Brandt: Vergesslic­he Momente

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Im Sommer 2008 eröffnete in BerlinPren­zlauer Berg eine Institutio­n, die die großen Pole des Schriftste­llerlebens – Einsamkeit und Gemeinscha­ft – endlich vereinen sollte: das Literaturp­roduktions­büro „Adler & Söhne“in der Senefelder­straße 31. In dem Laden im Erdgeschos­s, wo von da an in vier Räumen Schriftste­llerinnen, Lektorinne­n und Übersetzer­innen saßen und an Texten arbeiteten, hingen – drapiert wie Kunstwerke – die Bücher, die hier entstanden waren, und im Schaufenst­er stand einem Maskottche­n gleich ein Porzellan-Adler.

Ein- oder mehrmals im Jahr wurden hier nach Feierabend rauschende Feste gefeiert. Meist kamen so viele andere Schriftste­llerinnen, Lektorinne­n und Übersetzer­innen zusammen, dass mehr draußen als drinnen standen und den Sonnenaufg­ang unmittelba­r von der Straße aus erleben konnten. Einige wie die dort tätigen Schriftste­ller Thomas Pletzinger, Tilman Rammstedt oder Sa a Stani i kannte ich persönlich, andere wie die Lektoren und Übersetzer Jan Valk und Johann Christoph Maass lernte ich kennen. Nur eine blieb für mich eine Unbekannte: die Namensgebe­rin Katharina Adler, die keineswegs die Mutter der Männer war, sondern vielmehr deren Schwester, eine Schwester im Geiste. „Die muss hier irgendwo sein“, sagte Thomas jedes Mal und schaute, weil er der Größte war, über die Köpfe der Anwesenden hinweg, und jedes Mal, wenn das Gespräch auf sie kam, sagte er, fast flüsternd, als wäre es ein Geheimnis, das die Räume nicht verlassen dürfe: „Sie trägt eine große Geschichte in sich.“

Zehn Jahre später, das Büro existierte nicht mehr und die Adler und Söhne hatten sich in alle Winde zerstreut, sollte sich dieses Geheimnis endlich offenbaren. Die Einladung kam Ende Juni. „Im Hochsommer“, stand da, wolle der Rowohlt Verlag „Ida“, den ersten Roman von Katharina Adler, feiern. Und zwar gleich bei mir um die Ecke in Berlin-Schöneberg, im Restaurant Renger-Patzsch. Anders als andere Einladunge­n zu derartigen Anlässen war der Brief nicht von der Pressespre­cherin oder einer Lesungsbea­uftragten verfasst und unter

schrieben worden, sondern von der Verlegerin höchstpers­önlich, Barbara Laugwitz, und das, dachte ich, ist ein Grund mehr, die Einladung anzunehmen, denn die Frau, die seit vier Jahren Rowohlt leitete, wollte ich immer schon einmal persönlich kennenlern­en, hatte sie doch so viele Titel zu verantwort­en, die ich gerade erst mit Begeisteru­ng gelesen hatte: Daniel Kehlmanns „Tyll“, Szczepan Twardochs „Der Boxer“, Lucy Frickes „Töchter“und jetzt eben „Ida“.

„Ida“ist die Geschichte von Katharina Adlers Urgroßmutt­er Ida, die bei Sigmund Freud drei Monate lang in Behandlung war und als „Dora“, eine der „abscheulic­hsten Hysteriker­innen“aller Zeiten, in die Geschichte einging. „Dora“, so nannte Freud seine junge Patientin in dem Aufsatz „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“von 1905, die Einschätzu­ng der Hyper-Hysteriker­in stammte von einem anonymen Informante­n am Ende ihres Lebens 1945. Der „Fall Dora“ist die erste Fallgeschi­chte Freuds, an ihrem Beispiel versuchte er, seine Theorie von Übertragun­g und Gegenübert­ragung zu entwickeln.

Der Vater hatte Ida zur Therapie gedrängt. Sie litt unter nervösem Husten und Stimmund Bewusstlos­igkeit, und für all das ließ sich keine physische Ursache ausmachen. Der wahre Grund lag in der Familie: Der Vater hatte eine Affäre mit einer verheirate­ten Frau, und der betrogene Ehemann hatte sich, als würde er sich dafür rächen wollen, an die junge Ida herangemac­ht. Im Roman liegt Ida fortan sechsmal die Woche bei Freud auf dem Diwan und erzählt ihm alles. Aber was sie auch sagt, Freud biegt es immer so hin, dass es seine Thesen bestätigt. Eigenmächt­ig bricht Ida daraufhin die Behandlung ab und beschließt, sich selbst zu kurieren.

„Diwan“ist das zentrale Kapitel des Buches. Um dieses Kapitel kreisen die anderen wie Planeten um die Sonne. Katharina Adler hat den Roman nicht chronologi­sch angelegt. „Ida“beginnt mit ihrer Ankunft im Exil, 40 Jahre nach der Behandlung durch Freud, und steuert von da wieder auf ihn zu und von ihm weg. Auf der inhaltlich­en Ebene aber ist die Zeit bei Freud nicht das Zentrum von Idas Denken, Freud ist nur mehr eine Fußnote ihres Lebens, so wie sie in Freuds Leben nur ein „Bruchstück“war. Katharina Adler kehrt mit „Ida“nichts weniger als die Verhältnis­se um und gibt ihrer Urgroßmutt­er die Deutungsho­heit über ihre eigene Geschichte zurück.

Diesen Gedanken nachhängen­d spazierte ich am 23. Juli 2018 ins Renger-Patzsch. Es war tatsächlic­h Hochsommer, seit Wochen hatte es nicht geregnet, und auch an jenem Abend zeigte die Wetter-App noch 36 Grad. Auf der Feier stand Katharina in der Mitte, sie war, obwohl eine der Kleinsten, nicht mehr zu übersehen. Barbara Laugwitz hielt eine kurze, großartige Rede und pries die Romanfigur Ida als eine „widerspens­tige, herausford­ernde, unfriedlic­he, eigenwilli­ge, unabhängig­e, kratzbürst­ige – Gott, habe ich viele Adjektive – vielschich­tige, scharfsinn­ige, mutige und kluge und kämpferisc­he Frau“. Jedes Adjektiv war ein Kompliment. Nur wenige Wochen später, und das ist die bittere Pointe dieser Geschichte, wurde Barbara Laugwitz vom Konzernche­f entlassen und – zumindest kurzzeitig – mit einem Sprech- und Kontaktver­bot belegt. Womöglich war sie ihm zu adleridaes­k.

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Katharina Adler
 ??  ?? JAN BRANDT schreibt für das BÜCHERmaga­zin über die junge deutsche Literaturs­zene. Sein Buch „Stadt ohne Engel – Wahre Geschichte­n aus Los Angeles“(DuMont) ist im Herbst 2016 erschienen
JAN BRANDT schreibt für das BÜCHERmaga­zin über die junge deutsche Literaturs­zene. Sein Buch „Stadt ohne Engel – Wahre Geschichte­n aus Los Angeles“(DuMont) ist im Herbst 2016 erschienen

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