Ein Treffen mit Tana French in Dublin
Die irische Schriftstellerin Tana French ist legendär für ihre ungewöhnlichen Erzählstimmen. Beim Treffen in Dublin erzählt sie, warum ihre Schauspielausbildung ihr hilft, die Figuren zum Leben zu erwecken, und wie die dunklen Seiten der Gesellschaft in ihre Krimis einsickern.
Tana French ist Künstlerin. Sie wandelt federleicht durch ihre fulminanten Kriminalromane, erschafft Momente voll Innigkeit und Glanz, aber auch den Widerschein des Truges, der darin verborgen ist, und unversehens tun sich Abgründe auf. Ihre Ich-Erzähler sind nachdenklich, humorvoll und klug – wie sie selbst. Wir treffen die Autorin in der „Library-Bar“in Dublin, die mit abgegriffenen, roten Samtsesseln und viel dunklem Holz dem Weihnachtswahnsinn in Dublins beliebtestem Einkaufsviertel trotzt. Ein guter Rahmen, um über die überbordende, spielerische Sprache und den organischen, intuitiven Aufbau der Romane zu sprechen, die Tana Frenchs Bücher so einzigartig machen.
Haben Sie schon mal Workshops besucht oder Schreibseminare?
Schon als ich jung war, las ich Unmengen von Büchern. Ich denke, wenn man sehr viel liest, macht man instinktiv auch viel richtig. Ich habe dann als freie Lektorin für Kinderbücher und Krimis gearbeitet. Wenn etwas nicht funktionierte, zeigte ich dem Autor unterschiedliche Wege auf, das Problem zu lösen, wie sich Puzzlestücke ineinanderfügen und die Geschichte gestärkt wird. Und so wurde ich quasi für das Lernen bezahlt.
Sie schreiben ungewöhnlich überbordend. Wurden Sie anfangs aufgefordert, sich ein wenig zu mäßigen?
Ich muss selbst kürzen, weil ich immer überbeschreibe. Ich erzähle Ihnen etwas: Einer Freundin, die auch Lektorin ist, gab ich die ersten Kapitel von „Grabesgrün“. Sie fand sie richtig gut und wollte sie gerne jemandem zeigen, aber ob ich denn wisse, was mit den Kindern im Wald passiert ist? Und ich sagte, ich weiß es, bin aber ziemlich sicher, dass ich es nicht erzähle. Das müsse ich aber, meinte sie. Als das Buch fertig war, hat sie mich gefragt, warum ich es nicht erkläre. Aber der Protagonist läuft immer weg, weil er zu viel Angst vor seinem Trauma hat. Entweder, ich müsste seine Persönlichkeit komplett umdrehen, und das wäre cheap and cheesy und ich will es nicht machen. Oder jemand anders kommt, und serviert die Lösung, auch das ist cheap and cheesy und ich will es nicht machen. Oder ich schreibe das beste Buch, das ich kann und hoffe, dass genug Menschen damit zufrieden sind. Und breche die Regel: Wenn du ein Geheimnis aufbaust, musst du es auch lösen …
Ich möchte auch gerne wissen, was mit den drei Kindern im Wald passiert ist …
Für mich ging es in der Geschichte nicht um die Kinder im Wald. Es geht darum, ob die Hauptfigur jemals den Mut findet, sich der Vergangenheit zu stellen. Und sie tut es nicht. Aber ich habe E-Mails von wirklich genervten Lesern bekommen. Es ist auch eine faire Frage, was das soll.
Denken Sie, dass der Satz wahr ist: Man muss die Regeln kennen, um sie zu brechen?
Die Regeln sind nützlich, und wenn du sie brichst, brauchst du einen guten Grund dafür, einen besseren, nötigeren, als sie zu befolgen. Die Regeln, denen Geschichten folgen, haben sich über Dekaden entwickelt und Menschen erwarten etwas Bestimmtes. Dein Buch wird den Leser nicht auf die Art erreichen, die du dir wünschst, wenn du ihre Erwartungen ignorierst. Wenn du sie brechen möchtest, dann solltest du sie kennen, sonst ist deine Beziehung zum Leser einseitig. Und es geht ja alles um Kommunikation.
Mit was beginnt die Idee zu einer Geschichte bei Ihnen?
Für mich immer mit der Figur. Ich war jahrelang Schauspielerin, die Geschichte kommt aus den Charakteren nicht andersherum. Und es gibt auch noch nicht viel Plot, bis ich eine Weile über die Figuren geschrieben habe. Ich starte bei den absoluten Basics, einer zentralen Location, einem Haus, einem Ort, einem Wald. Und dann springe ich hinein und hoffe, dass am Ende ein Buch daraus wird. Es gibt Autoren, die haben alles ausgearbeitet, kennen exakt die Geschichte … Ich bin so neidisch auf die (lacht)! Weil sie wissen, dass alle Teile zusammenpassen, sie wissen, dass sie nicht nach einem Jahr dasitzen: Oh, oh, das war keine gute Idee …
Nun haben Sie bereits erfolgreich sieben Bücher geschrieben. Jetzt wissen Sie, dass höchstwahrscheinlich etwas dabei herauskommt …
Es ist immer wieder neu. Es ist immer anders. Wenn ich eine Serie schreiben würde, wäre es vermut
lich einfacher. Man weiß, wie die Hauptfigur funktioniert, und man den Plot formt. Ich liebe es, diese Bücher zu lesen, aber ich bin nicht daran interessiert, sie zu schreiben. Ich schreibe über die großen Wendepunkte. Was immer die Figur hier wählt, alles wird sich für immer ändern. Aber im Leben eines Menschen gibt es nicht so viele dieser einschneidenden Ereignisse. Ich kann nicht über einen Typen schreiben, der das alle zwei Jahre durchmacht, der wäre am Ende reif für die Klapse. Ich liebe es, den Protagonisten zu wechseln. Und da er das Buch formt, gibt es ein ganz anderes Muster. „Sterbenskalt“ist mehr oder weniger ein Noir, „Totengleich“ist Gothic, „Schattenstill“ist gradliniger. Der Stil verändert sich, das Tempo, eigentlich alles mit der Stimme der Hauptfigur …
Außergewöhnlich und anders als die anderen Bücher war ja auch „Der geheime Ort“…
Die Jugend ist eine seltsame Zeit. Mit 15, 16 versuchst du, nicht nur herauszufinden, wer du bist, sondern auch, wer du hoffst, sein zu können. Medien, Eltern, Lehrer, deine Peergroup, alle sagen dir, wer du sein sollst. Doch wem hörst du zu, wem erlaubst du zu entscheiden, wer du sein wirst? Ich denke, das ist eine sehr beängstigende Frage, denn wenn du anderen Menschen zu viel Einf luss erlaubst, verlierst du dich selbst. Aber wenn du dir von niemandem etwas sagen lässt, wie kannst du dann eine Beziehung mit anderen Menschen führen? Rebecca wehrt jeden ab.
Beim Lesen fühlte es sich an, als dringe das Böse in ein schönes Märchenland …
Ich schreibe sehr gerne darüber, dass an der Oberf läche eine bestimmte Atmosphäre herrscht, aber darunter etwas anderes liegt. Das bedeutet nicht, dass die Atmosphäre an der Oberf läche falsch ist. Ich glaube, ein Ort, eine Zeit oder eine Beziehung kann mehrere Ebenen gleichzeitig haben. Es kann die Zeit der Freundschaft und des Lachens sein, geradezu magisch, und gleichzeitig dunkel und gefährlich.
Sie schreiben in der ersten Person, die Perspektive ist limitiert, eine objektive Wahrheit gibt es nicht …
Ja, das ist ja das Interessante! Manipuliert die Figur den Leser bewusst oder unbewusst?! Die Perspektive der dritten Person gibt uns die Möglichkeit, mehr zu wissen als die Figur. In der gefährlichen ersten Person ist es einfach, die Perspektive anzunehmen, weil man in jemandes Kopf ist, aber das ist auch die Herausforderung. Du fühlst dich so intim und nah mit diesem Charakter. Und ich liebe unzuverlässige Erzähler, ich liebe dieses Gefühl, weil du dem nahekommst, worum es beim Bücherlesen überhaupt geht: Die Welt mit anderen Augen zu sehen. Und wir sind alle unzuverlässige Erzähler, wir sehen die Welt alle auf unsere eigene Art und Weise. Intensiver geht es nicht. Aber Ihre Figuren sagen sogar: Ich bin ein Lügner. Sie sind ehrlich zum Leser …
Einige ja, andere nicht. Antoinette sagt zum Beispiel, dass es keinen Einfluss auf ihr Leben hat, dass sie ihren Vater nicht kennt. Und der Leser weiß, das ist absolut nicht wahr. Die Figuren sind nicht immer ehrlich mit sich selbst. Wie Toby in dem neuen Buch: Er braucht bestimmte Wahrheiten, an die er glauben kann und die ihn zusammenhalten. Dass er ein guter Typ ist, dass seine Freundin perfekt ist und er ein Glückspilz. Wenn er den Glauben daran verliert, fällt er in Stücke. Er dreht alles so hin, dass es zu seinem eigenen Narrativ passt.
Worum geht es in „Der dunkle Garten“?
Ich habe über den Zusammenhang zwischen Empathie und Glück nachgedacht. Im Jahr 1943 fanden in England vier Kinder, die auf einen Baum kletterten, einen menschlichen Schädel in dem hohlen Stamm. Es war der einer Frau, die 18 Monate zuvor gestorben war und von der niemand wusste, wer sie war und wo sie herkam. Es tauchte ein Graffiti auf: „Who put Bella in the Witch Elm?“Mein Bruder schickte mir den Link dazu mit der Nachricht: Oh, das klingt wie eine Tana-French-Geschichte! Und ich dachte, vermutlich, vielleicht, wusste nicht, ob ich das jetzt schmeichelhaft oder verstörend finde sollte … aber es blieb mir im Kopf hängen.
Sie dekonstruieren Toby, er muss ziemlich viel durchmachen. Mögen Sie keine oberflächlichen Menschen?
Am Ende ist er nicht mehr oberflächlich (lacht). Aber ihn für seine Art zu bestrafen, war definitiv nicht das, woran ich gedacht habe. Er ist jemand, der in jeder Lebenslage ein einfaches Spiel hatte. Und als sein Glück schwindet, hat er keine Strategie, damit umzugehen. Die meisten von uns kennen das so nicht, wir waren glücklich und unglücklich. Wenn etwas Schlimmes passiert, haben wir wenigstens etwas Erfahrung, eine vorhergehende Warnung, dass die Welt kein süßer, gütiger Ort ist. Wenn du eine Frau bist, nicht weiß, schwul, krank, arm, nicht aus einer stabilen Familie, dann weißt du das. Tobys Welt war quasi gemacht, um seine Bedürfnisse zu erfüllen. Er kann sich nicht wieder aufrappeln, als dann alles schiefgeht.
Mögen Sie ihn?
Ja. Und wenn du Figuren in der ersten Person schreibst, ist es nicht die Frage, ob du sie magst, du bist auf ihrer Seite. Wieder: wie ein Schauspieler! Auch wenn du den schlimmsten Typen der Welt spielst, musst du daran glauben, dass er recht hat, weil er denkt, dass er recht hat. Abgesehen davon denken die meisten Menschen, dass ihr Verhalten gerechtfertigt ist. Toby ist ein guter Typ, der einfach keine Idee davon hat, dass die Welt sich für andere anders darstellt. Ich denke, wenn wir zu glücklich sind, verlieren wir Empathie, weil wir
uns nicht vorstellen können, wie es anders ist. Um es so zu sagen: Toby brauchte einen Tritt oder zwei, um ihn aufzuwecken (lacht).
Wie entwickeln Sie eine Figur? Ich kenne einen Autor, der hat für sie eingekauft, das, was die Figur gerne isst …
Wow, das ist faszinierend! Wie bei den alten Feentraditionen: eine Kreatur füttern, damit sie bleibt.
Aber vielleicht wird man sie dann nicht mehr los?!
Das wäre bei einigen ein großes Problem (lacht)! Ich mache es, wie mit einer neuen Rolle. Ich verbringe viel Zeit damit, über die Person nachzudenken, mich einzufühlen, zu versuchen, wie sie zu denken. Aber, wie bei einem Computer, wenn ich den ausmache, ist er aus. Ich gehöre nicht zu den Schauspielern, die ihren Charakter 24 Stunden am Tag leben müssen, und gehe nicht als Antoinette Conway in einen Pub.
Erkennen Sie rückblickend ein Muster, nach dem Sie die neuen Protagonisten aus den anderen Büchern auswählen?
Das variiert. Es gibt bei jeder Figur einen Grund. In „Schattenstill“zum Beispiel, wollte ich ursprünglich Steven Moran nehmen, aber dann wurde mir klar, dass es hier um Menschen geht, die alle Regeln befolgt haben, immer gemacht haben, was man ihnen gesagt hat, bis die Regeln zurückschlagen. Und Steven bricht Regeln. Wenn du das Narrativ eines Themas verrenkst, dann ist das Buch schwach. Aber da war ein Charakter in „Sterbenskalt“, Mike Kennedy, der an Regeln glaubt. Mir wurde klar, dass er der Erzähler für „Schattenstill“ist. Es ist das deprimierendste Buch, das ich je geschrieben habe.
Ich mochte es sehr. Waren Sie beeinflusst durch die damalige Wirtschaftskrise in Irland? Definitiv. In den anderen Büchern gab es Hoffnung, die Figuren haben etwas überwunden, konnten weitergehen. Aber es war eine schwere Zeit und ich glaube, wir Krimischreiber werden von sozialen Kontexten sehr beeinflusst. Mord gibt es immer, aber die Gründe variieren. Die Spannungen, die dunklen Orte, die Prioritäten der Gesellschaft, die Konflikte verändern sich, und wenn man über Mord schreibt, dann wirft man automatisch Licht auf den winzigen Ort, an dem er passiert. Wir hatten damals Glück. Wir waren zu pleite, um etwas zu kaufen, aber viele aus meiner Generation kauften überteuerte Häuser und saßen später ohne Licht und Infrastruktur im Nirgendwo und kamen nicht mehr weg. In „Schattenstill“geht es um Wahnsinn, weil die ganze Nation wahnsinnig geworden war. Wer Bedenken angemeldet hat, wurde einfach niedergeschrien. Und das sickert in eine Krimigeschichte noch mehr ein, weil du über die dunklen Seiten, die täuschenden Lichter, der Gesellschaft nachdenkst.