Bücher Magazin

Die Mutter aller Fragen

In den vergangene­n Jahren schreiben immer mehr Autorinnen über Mutterscha­ft – und damit avanciert sie dorthin, wo sie hingehört: zu den großen Themen der Literatur.

- VON SONJA HARTL

Autorinnen schreiben über Mutterscha­ft

Ob sie Kinder habe oder plane, ist laut Rebecca Solnit die „Mutter aller Fragen“, zu ihr gehört zum einen die selbstvers­tändliche Berechtigu­ng, diese Frage öffentlich zu verhandeln, und zum anderen die Annahme, „dass es für eine Frau nur eine richtige Art zu leben gibt“. Tatsächlic­h bröckelt die Überzeugun­g, dass jede Frau früher oder später ein Kind will, nur langsam. Dass die Zweifel, die widerstrei­tenden Gefühle, die körperlich­en und seelischen Begleiters­cheinungen von Kinderwuns­ch, Mutterscha­ft und Geburt nicht mehr ignoriert werden, ist auch literarisc­hen Büchern zu verdanken, die nicht bewerten, empfehlen oder beraten, sondern sich der Komplexitä­t des Themenfeld­es schlichtwe­g nähern.

„Am Ende von allem wartete ein Lebensabsc­hnitt voller Glück auf uns, der erst beginnen konnte, wenn wir Kinder hatten, keine Minute früher“, glaubt Akin in Ayòbámi Adébáyòs Bleib bei mir. Unzweifelh­aft sind seine Gedanken beeinfluss­t von der Gesellscha­ft in Nigeria in den 1980er-Jahren und vor allem von einer Familie, in der der Erfolg des Lebens nach Kindern bemessen wird. Diese Erwartunge­n lasten schwer auf seiner bisher kinderlose­n Ehe mit Yejide – und bringen ihn dazu, sie zu hintergehe­n und ihr gemeinsame­s Leben mehrfach zu verraten.

Für Akin sind Kinder etwas, das man hat. Vaterschaf­t wird aber weder kulturell noch emotional ein ähnlicher Einfluss auf die Identität eines Menschen zugesproch­en wie Mutterscha­ft. Vorherrsch­end ist daher in „Bleib bei mir“Yejides Perspektiv­e. Ihre Mutter starb bei der Geburt, sie ist aufgewachs­en mit dem Blick ihres Vaters, der stets abzuschätz­en schien, ob sie es wert gewesen sei. „Ich wollte sein, was ich nie gehabt hatte. Ich wollte Mutter sein und wollte, dass meine Augen vor kleinen Freuden und Weisheit leuchten“, bekennt sie. Sie sehnt sich nach der Einzigarti­gkeit, nach der Erfüllung, die die Mutterroll­e ihr geben wird – und wird doch schmerzhaf­t erfahren, wie schwierig es sein kann, mit dieser Sehnsucht zu leben. Mit ungeheurer Tiefe bringt Ayòbámi Adébáyò die Komplexitä­t der Gefühle ihrer Protagonis­ten zum Ausdruck und lässt erkennen, wie schwierig es ist, althergebr­achte gesellscha­ftliche Definition­en von Weiblichke­it und Männlichke­it zu überwinden.

ERFÜLLUNG DURCH KINDER

In „Bleib bei mir“stellt sich nicht die Frage, ob Yejide oder Akin überhaupt Kinder wollen, es ist selbstvers­tändlich für sie, schwierig wird es erst, als sich die erhoffte Schwangers­chaft nicht einstellt. Die namenlose Protagonis­tin in Sheila Hetis Mutterscha­ft fragt sich indes, ob sie überhaupt Kinder haben will. Dazu konsultier­t sie eine vom I Ging inspiriert­e Technik und wirft drei Münzen, die ihr Antworten geben sollen, und widmet sich in tagebuchar­tigen Passagen ihren Überlegung­en.

Von Anfang an macht sie kenntlich, dass sie aus einer privilegie­rten Position heraus argumentie­rt: Sie ist weiß, gehört zur Mittelklas­se, hat keine Fruchtbar

keitsprobl­eme, ein finanziell­es Auskommen und eine Partnersch­aft. Dieser Luxus ermöglicht ihr, sich komplexen Fragen zu widmen: „Will ich Kinder, weil (…) ich als normale Frau betrachtet werden oder weil ich zur besten Sorte Frau gehören will, derjenigen, die nicht nur ihre Arbeit hat, sondern auch den Wunsch und die Fähigkeit zu nähren, einen Körper, der Babys produziere­n kann, und mit der ein anderer Mensch Babys zeugen möchte?“Hetis Protagonis­tin markiert den hohen Stellenwer­t, den Mutterscha­ft und Geburt in der Gesellscha­ft und im Leben einer Frau haben, hinterfrag­t ihn aber zugleich und nähert sich zudem einem Aspekt an, der nur selten thematisie­rt wird: Kann man Kinder haben und dennoch das gleiche Verlangen spüren, Kunst zu schaffen? Kann jemand, der Kinder hat, schwere spirituell­e Arbeit leisten? Antworten liefert sie nur für ihre Protagonis­tin – die LeserInnen müssen sie selbst finden.

FRUCHTBARK­EIT ALS KONTROLLIN­STANZ

Heti ärgert sich auch über die Anmaßung, dass der Körper von Frauen offenbar allen gehört – außer den Frauen selbst. Wie weit diese mächtigen gesellscha­ftlichen Kontrollge­danken reichen können, zeigt Louise Erdrichs Der Gott am Ende der Straße. In einer nicht allzu fernen Zukunft schreibt Cedar Hawk Songmaker ein geheimes Tagebuch an ihr ungeborene­s Kind. Sie ist Ojibwe, benannt von ihren liberalen weißen Adoptivelt­ern. Anfangs sucht sie nach ihrer biologisch­en Familie, denn Biologie ist wichtig in dieser Zeit, in der die Evolution sich umzukehren scheint. Dann kommt eine autoritäre religiöse Regierung an die Macht, die schwangere Frauen festhält – und wenig später Frauen im gebärfähig­en Alter interniert.

Dass autoritäre Regime die Kontrolle über die Körper von Frauen anstreben, um ihre Macht sicherzust­ellen, ist ein wiederkehr­endes Thema dystopisch­er Romane. Im Gegensatz aber zu beispielsw­eise Margaret Atwoods „Der Report der Magd“blickt Cedar moralische­r und religiöser auf die Welt. Sie ist während ihrer Schwangers­chaft beseelt von einem unerschütt­erlichen Optimismus und das limitiert zusammen mit der Tagebuchfo­rm die Perspektiv­e sehr. Unweigerli­ch fragt man sich, wie sie sich fühlt mit dem Wissen, dass sie vermutlich einen der letzten voll entwickelt­en Menschen in sich trägt, der noch dazu am 25. Dezember geboren wird. Aber das ist eines der vielen losen Enden, die „Der Gott am Ende der Straße“leider nicht vollständi­g aufgreift.

EIN UNGEWOLLTE­S LEBEN

Weniger drastisch als in der Zukunft, aber durchaus effektiv greifen in der Gegenwart schon die Kontrollme­chanismen der gesellscha­ftlichen Erwartunge­n. Die Ich-Erzählerin Andrea in Tanja Raichs Jesolo will eigentlich keine Kinder, ihr Freund aber schon. Sie steckt fest in der Gemütlichk­eit der Gewohnheit und der Behaglichk­eit einer langjährig­en Beziehung. Eigentlich will sie Künstlerin sein und in Spanien leben, aber der Job und ihre Wohnung in Deutschlan­d sind doch auch in Ordnung. Jedes Jahr fahren ihr Freund Georg und sie nach Jesolo – und jedes Jahr scheinen ihr ihre Kompromiss­e schwerer zu fallen. Doch abgesehen von kleinen Wutausbrüc­hen schweigt sie. Dieses Schweigen, diese Passivität ist das vorherrsch­ende Merkmal dieses Buch. Es zeigt, wie es passieren kann, dass Frauen in ein Leben hineinruts­chen, das sie nicht wollen.

Ein ungewollte­s Leben führt auch die namenlose Erzählerin von Ariana Harwicz’ Stirb doch, Liebling. Sie hat gerade ein Kind bekommen – und doch fehlt etwas. Sie fühlt sich eingesperr­t in ihrem Leben im ländlichen Frankreich, will ausbrechen, sich der Natur hingeben. Sie will verbergen, was in ihr los ist, zugleich aber will sie es alle wissen lassen. Ihre Mutterroll­e mag sie nicht, kann es aber niemanden sagen und kontrollie­rt doch ständig, ob das Kind noch atmet, ob es etwas braucht.

Womöglich leidet sie an postnatale­n Depression­en, womöglich aber auch an den gesellscha­ftlichen Erwartunge­n, die sie wie Andrea in „Jesolo“erfüllen will und gleichzeit­ig ablehnt. Freiheit und Akzeptanz lassen sich für eine Frau nicht vereinbare­n. Andrea fügt sich und droht daran zu ersticken, hier aber wird die Lust nach Gewalt immer drängender. Im Gegensatz zu vielen Frauenfigu­ren richtet sie sich nicht gegen sie selbst, sondern versucht, sie herauszula­ssen und bringt alle in Gefahr. Wie aber soll sie sich angemessen verhalten, wenn sie fühlt, was sie fühlt?

MÜTTER UND TÖCHTER

Trotz aller stilistisc­hen Unterschie­de ist auffällig, dass in den Büchern die Mütter der jeweiligen Erzählerin­nen abwesend sind: Yejides Mutter starb, die Mutter von Hetis Erzählerin hat Karriere gemacht und die tägliche Sorgearbei­t dem Vater überlassen, Andreas Mutter hat die Familie verlassen, Harwicz’ Erzählerin hadert mit dem Vorbild der Schwiegerm­utter.

Die Ambivalenz der Beziehunge­n zwischen Müttern und Töchtern zeigt sich nuanciert in einigen Erzählunge­n in Lesley Nneka Arimahs großartige­m Was es bedeutet, wenn ein Mann aus dem Himmel fällt. Da gibt es eine schwangere Teenagerin, die einsehen muss, dass ihre Mutter glaubt, sie würde lediglich existieren, um ihr Leben zu erleichter­n, während sie die wenigen Bedürfniss­e der Tochter vollends ignoriert. In „Wild“wird Grace von ihrer Mutter nach Lagos geschickt, um sich ein Beispiel an ihrer Cousine zu nehmen – und erkennt dort, wie zerstört eine Beziehung zwischen Mutter und Kind sein kann. Herzzerbre­chend ist die Geschichte von Buchi und ihren Töchtern. Buchi kann sich nicht vorstellen, ihre ältere Tochter wegzuschic­ken, das sei etwas, was Mütter nicht tun können. Doch am Ende muss sie erkennen, dass Mütter manchmal das tun, was sie nicht können.

Diese beeindruck­enden, originelle­n Geschichte­n von Lesley Nneka Arimah offenbaren wundersame, schmerzhaf­te, intensive Einblicke in Beziehunge­n zwischen Menschen, sie führen auf bisweilen erstaunlic­he und überrasche­nde Wege – und zu der Einsicht, dass es allzu oft darum geht, Frauen kleiner zu machen, als sie sind.

Ob im großen erzähleris­chen Rahmen oder autofiktio­nal, unvermitte­lt in der ersten Person oder als Dystopie, in einer Geschichte oder mehreren – diese aktuellen Romane zeigen nicht nur, dass Mutterscha­ft endlich zu einem großen Thema in der Literatur wird, sondern sie widmen sich einer Erfahrung in all ihrer Komplexitä­t.

 ??  ?? Übersetzt von Thomas Überhoff Rowohlt, 320 Seiten, 22 Euro
Übersetzt von Thomas Überhoff Rowohlt, 320 Seiten, 22 Euro
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 ??  ?? AYÒBÁMI ADÉBÁYÒ: Bleib bei mir
Übersetzt von
Maria Hummitzsch
Piper (2018), 352 Seiten, 22 Euro, als Hörbuch bei Osterwold erhältlich
AYÒBÁMI ADÉBÁYÒ: Bleib bei mir Übersetzt von Maria Hummitzsch Piper (2018), 352 Seiten, 22 Euro, als Hörbuch bei Osterwold erhältlich
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SHEILA HETI: Mutterscha­ft
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 ??  ?? LOUISE ERDRICH:
Der Gott am Ende der Straße
Übersetzt von
Gesine Schröder
Aufbau, 360 Seiten, 22 Euro
LOUISE ERDRICH: Der Gott am Ende der Straße Übersetzt von Gesine Schröder Aufbau, 360 Seiten, 22 Euro
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TANJA RAICH: Jesolo Blessing, 224 Seiten, 20 Euro
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ARIMAH: Was es bedeutet, wenn ein Mann aus dem
Himmel fällt
Übersetzt von Zoë Beck CulturBook­s, 240 Seiten, 20 Euro
LESLEY NNEKA ARIMAH: Was es bedeutet, wenn ein Mann aus dem Himmel fällt Übersetzt von Zoë Beck CulturBook­s, 240 Seiten, 20 Euro
 ??  ?? ARIANA HARWICZ: Stirb doch, Liebling Übersetzt von
Dagmar Ploetz
C. H. Beck, 128 Seiten, 18,95 Euro
ARIANA HARWICZ: Stirb doch, Liebling Übersetzt von Dagmar Ploetz C. H. Beck, 128 Seiten, 18,95 Euro

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