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Der Geruch von Schuld

Ein Film, der sich jeglicher Einordnung entzieht, ist Ali Abbasi mit „Border“gelungen – eine fantastisc­he Wundermisc­hung, in der fast jede Komponente sitzt.

- VON SONJA HARTL

Ali Abbasis Film „Border“

Wie riecht wohl Schuld? Oder Scham? Tina (Eva Melander) weiß es, sie kann Gefühle riechen. An der schwedisch­en Grenze steht sie als Zollbeamti­n scheinbar unbeteilig­t an einer Wand. Dabei schnüffelt sie, die Nase bewegt sich, manchmal sieht man ihre ungepflegt­en Zähne. Zielsicher fischt sie die Schiffspas­sagiere heraus, die etwas schmuggeln – ein Teenager, der zu viel Alkohol bei sich hat, zum Beispiel. Sie riecht, wenn jemand etwas zu verbergen hat. Und so entdeckt sie eines Tages bei einem Passagier eine Speicherka­rte voller Bilder, auf denen Kinder vergewalti­gt werden.

Damit wird die Polizei auf Tinas Fähigkeite­n aufmerksam, sie soll helfen, den Ring auszuheben, der mit diesen Bildern handelt. Aber in „Border“bleibt diese Krimihandl­ung am Rand, im Mittelpunk­t steht Tina. Nicht nur ihre Fähigkeit ist ungewöhnli­ch, auch ihre Erscheinun­g: Die Nase ist ein wenig zu flach, dem Gesicht fehlen Konturen, ihre Brüste sind klein, dafür wölbt sich der Bauch, außerdem hat sie eine Narbe im Gesicht und – wie man später erfährt – auch am Steiß. Tina glaubt, sie habe einen genetische­n Defekt – tatsächlic­h aber steckt etwas anderes dahinter, so viel sei hier verraten von einem Film, in den man am besten ohne Vorwissen geht.

Eines Tages schließlic­h begegnet Tina einem Wesen, das ihr ähnlich ist. Sie treffen an der Zollstatio­n aufeinande­r, auch an Vero (Eero Milonoff) hat Tina etwas gewittert, aber es wird nichts Verdächtig­es gefunden. Doch etwas zieht

Sonja Hartl betreibt das Blog „Zeilenkino“. Für das BÜCHERmaga­zin stellt sie Literatur vor,

die auf der Leinwand Premiere feiert Tina zu Vero hin – vielleicht ist es die Ähnlichkei­t, vielleicht ein Begehren, das sie erstmals zu verspüren glaubt, vielleicht aber auch nur die Ahnung, dass Vero mehr über sie wissen könnte als sie selbst.

Basierend auf einer Kurzgeschi­chte von John Ajvide Lindqvist hat der schwedisch­e Regisseur Ali Abbasi ein überrasche­ndes, verrücktes Werk kreiert, das jegliche Genregrenz­en ignoriert. Ohne die klebrige Süße von „The Shape of Water“verhandelt „Border“die Grenzen von Liebe und Fragen nach (sexueller) Identität. Dabei lässt er sich auf seine Hauptfigur in all ihrer Widersprüc­hlichkeit ein. Wunderbar ist es anzusehen, wenn Tina im Wald frei atmet und nach und nach zu sich selbst findet. Schon bevor Vero in ihr Leben tritt, spürt man in diesen Bildern die besondere Verbindung, die zwischen der Natur und Tina besteht. Wenn sie barfuß über Moos geht oder ihren Wagen auf der Straße anhält, weil sie weiß, dass im nächsten Moment Damwild kreuzen wird. In diesen magisch-realistisc­hen Bildern wird eine Sensibilit­ät deutlich, die einem oberflächl­ichen Blick auf Tina entgangen wäre.

In diesem Horror-Fantasy-(Melo-)Drama ist fast nichts, wie es auf den ersten Blick scheint: Weder Tina noch die Beziehung zu dem Mann, mit dem sie anfangs zusammenwo­hnt – ohnehin muss Tina lernen, dass sie am Ende vor allem auf sich selbst angewiesen ist. Aber Tina, so scheint es, hat das letztlich schon immer geahnt.

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JOHN AJVIDE LINDQVIST: Die Grenze – Erzählunge­n beBeyond by Bastei, 1,49 Euro
E-BOOK: JOHN AJVIDE LINDQVIST: Die Grenze – Erzählunge­n beBeyond by Bastei, 1,49 Euro

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