Bücher Magazin

Von Brüdern und Brücken

- VON JANA KÜHN

Markus Zusaks Roman „Nichts weniger als ein Wunder“

Über zehn Jahre nach seinem internatio­nalen Bestseller „Die Bücherdieb­in“und von einer weltweiten Fangemeind­e entspreche­nd vorfreudig erwartet, legt Markus Zusak mit einem auf den ersten Blick nicht weniger episch anmutenden Werk nach. Hält „Nichts weniger als ein Wunder“, was der Titel der deutschen Übersetzun­g verspricht?

Große Erfolge fortzusetz­en, ist meist nicht leicht. Die Messlatte der Kritik wie der Fangemeind­e hängt hoch. Aber auch die eigenen Erwartunge­n und Ansprüche eines Autors stehen dem in nichts nach. Und Markus Zusak hat es sich mit seinem neuen Roman nicht leicht gemacht. „Ich wollte mich nach der ‚Bücherdieb­in‘ auch weiterhin selbst herausford­ern, wollte ein weiteres Buch schreiben,

das mir alles bedeutete. […] Letztlich besteht der Unterschie­d darin, dass es dem Leser mehr denn je abverlangt.“Zusaks Bücher waren bisher allesamt Jugendbüch­er, die jedoch auch bei der erwachsene­n Leserschaf­t auf großes Echo stießen. Er selbst wollte sich nie in Kategorien festlegen. „Nichts weniger als ein Wunder“ist nun definitiv kein Jugendbuch, obgleich es thematisch durchaus an frühere Werke anknüpft.

Einmal mehr führt Zusak seine Leser tief in Teenagerwe­lten. Wie in der „Wolfe-Trilogie“– die in diesem Frühjahr in einer Neuausgabe erschienen ist – stehen die Beziehunge­n von jugendlich­en Brüdern und damit die Gefühlswel­ten von jungen Männern im Mittelpunk­t. In der „Wolfe-Trilogie“erzählte Zusak vom hadernden Erwachsenw­erden der zwei Brüder Cameron und Ruben – nun sind es gleich fünf: Matthew, mit 18 Jahren der Älteste und Zusaks Erzählstim­me, Rory, der Raubeinige, und Henry, der „Geldsammle­r, der Nette“, Clay, der Sensible, der im Mittelpunk­t des Geschehens steht, und Tommy, der Jüngste, der „Tiersammle­r“, ein Kind noch, das von seinen Brüdern liebevoll ruppigen Halt erfährt. Die fünf Brüder leben nach dem Tod der Mutter und dem Verschwind­en des Vaters allein in einem zunehmend verlottern­den Haus am Rande Sydneys. Drei Jahre kämpfte Mutter Peggy Dunbar gegen eine Krebserkra­nkung. Zurück bleiben fünf Jungen und ein Ehemann, der am Tod der Geliebten zerbricht und seine Kinder, nicht weniger gebrochen, allein zurückläss­t. Um Tommy den Verlust der Eltern zu erleichter­n, schaffen die Jungen mehrere Haustiere an: Hektor, den Kater, Telemach, den Wellensitt­ich, Achilles, das Maultier. Ihre Namen entstammen den zitatreich einf ließenden, antiken Epen Ilias und Odyssee, den Lieblingsw­erken der Dunbar Mutter.

VOM BAU EINER BRÜCKE

Zusak beginnt mit dem Wunsch des Erzählers Matthew, die tragische Geschichte seiner Familie aufzuschre­iben. Auslöser ist der Vater, der nach mehreren Jahren heimkehrt und seine Söhne um Hilfe beim Wiederaufb­au einer zerstörten Brücke bittet. Er wird von seinen Söhnen der Mörder genannt – zum einen gibt es die vage Vermutung, dass er der Mutter beim Sterben half, zum anderen ist es sein Verschwind­en, das den Jungen noch zur allergrößt­en Verzweif lung fehlte, ein Seelenmörd­er also. Damit beginnt, was dem Buch im englischen Original seinen Titel gab: „Bridge of Clay“. Gegen den Willen seiner Brüder macht sich Clay auf den Weg, seinem Vater zu helfen und startet damit eben nicht weniger als ein Wunder, nämlich den sinnbildli­chen Brückensch­lag: eine neue Verbindung zwischen den scheinbar unwiederbr­inglich getrennten Ufern der Familie. „Als ich erstmals über einen Jungen namens Clay(ton) nachdachte, der eine Brücke bauen sollte, […] wusste ich im selben Moment, dass diese Brücke aus Stein oder aus Holz, in Wahrheit aber aus ihm bestehen sollte – wirklich aus Clay selbst.“Die Brücke lässt Zusak nach alter Tradition ohne technische Hilfsmitte­l bauen, vielleicht um die Beschwerli­chkeit des Anliegens zu betonen, wohl aber auch als eine Art Referenz an Michelange­lo, den Steinbrech­er, denn eine zerlesene Biografie des berühmten Renaissanc­ekünstlers wird zum Schlüssel der Beziehung zwischen Vater und Sohn.

EIN ZEITLOSES FAMILIENDR­AMA

Wie dieser Brückenbau wirkt Zusaks Geschichte aus der Zeit gefallen. Historisch­e Eckdaten, wie die Flucht der Mutter als junge Frau aus dem sozialisti­schen Polen, verorten den Roman zwar einerseits, anderersei­ts fehlen Bezüge auf einen zeitgenöss­ischen Alltag – keine Mobiltelef­one, keine Computer. Stattdesse­n schreibt Matthew die Familienge­schichte auf einer uralten Schreibmas­chine und im Hause Dunbar werden Filme auf VHS geschaut. Ähnlich antiquiert erscheinen auch die Charakteri­sierungen der Jungen, wie aus Zeiten, als Männer noch richtige Männer sein durften. „Wir f luchten wie Matrosen, kämpften wie Rivalen und forderten einander ständig heraus“, so beschreibt Matthew den Alltag im Hause Dunbar, wo es „wirklich und wahrhafte Jungenzimm­er“gibt und Konf likte selbstrede­nd mit Fäusten ausgetrage­n werden – unter den rauen Schalen sitzt aber natürlich ein sensibler Kern. Zusak knüpft darin zwar motivisch an die „Wolfe-Trilogie“an, doch sein neuer Roman kommt sprachlich deutlich reifer und ausgefeilt­er daher. Mit viel Feingefühl und großer Spannung baut sich die Geschichte von Liebe und Verlust, Trauer und Neunanfang langsam und verschlung­en auf: die Lebensgesc­hichten der Eltern, Clays erste große Liebe und schließlic­h der Brückenbau. Erzähler Matthew folgt keiner Chronologi­e, er springt vor und zurück, streut hier und da Hinweise auf zukünftige und vergangene Geschehnis­se. Mal ist man den Protagonis­ten gedanklich weit voraus, mal tappt man anhand weniger Details und nur angerissen­er Episoden mit ihnen im Dunkeln. Irgendwann fügen sich alle Puzzleteil­e und damit das gesamte Familiendr­ama zusammen. Das ist zwar kunstvoll und zeugt von Zusaks großer erzähleris­cher Könnerscha­ft. Allein, ganz in diesem Maße braucht es die Geschichte nicht, die per se in ihrer Fülle an Personen, an Haupt- und Nebenerzäh­lsträngen bereits einiges Gewicht zu tragen hat. Der Vergleich von Brücke und Geschichte liegt hierbei nahe. Man könnte auch sagen, der Spannungsb­ogen ist mit diesen schier unendliche­n erzähleris­chen Tricks und Kniffen irgendwann ein wenig überspannt, aber das Gesamtense­mble hält.

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 ??  ?? MARKUS ZUSAK LESEN & HÖREN Nichts weniger als ein Wunder
Übersetzt von Alexandra Ernst Limes, 640 Seiten,
22 Euro
Hörbuch
Ungekürzte Lesung von Johannes Klaußner Random House Audio, 1005 Min./2 MP3-CDs, 22 Euro
BÜCHERmaga­zin verlost je dreimal „Nichts weniger als ein Wunder“(Limes/Random House Audio). Teilnahmeb­edingungen auf S. 4. Viel Glück! Underdogs –
Die Wolfe-Trilogie Übersetzt von Alexandra Ernst und Ulrich Plenzdorf cbt, 514 Seiten, 12 Euro
MARKUS ZUSAK LESEN & HÖREN Nichts weniger als ein Wunder Übersetzt von Alexandra Ernst Limes, 640 Seiten, 22 Euro Hörbuch Ungekürzte Lesung von Johannes Klaußner Random House Audio, 1005 Min./2 MP3-CDs, 22 Euro BÜCHERmaga­zin verlost je dreimal „Nichts weniger als ein Wunder“(Limes/Random House Audio). Teilnahmeb­edingungen auf S. 4. Viel Glück! Underdogs – Die Wolfe-Trilogie Übersetzt von Alexandra Ernst und Ulrich Plenzdorf cbt, 514 Seiten, 12 Euro

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