Tage des Donners
100 Jahre Demokratie – Eine Buchlese zur Weimarer Republik
War nicht gerade erst der 100-jährige Jahrestag des Kriegsendes? Warum in diesem Jahr schon wieder zurückblicken? Nun, der Krieg endete zwar 1918, doch war das darauffolgende Jahr mindestens genauso entscheidend für den weiteren Verlauf der Geschichte. Eine Flut von Publikationen nimmt diesen Fakt in Augenschein und versucht sich an Erklärungen.
Sonnabend, dem 9.11.18. Wetter trübe, Regen. Wecken 7 ½ Uhr. 9 Uhr Frühstück. Abdankung seiner Majestät (Abgesetzt von Soldatenrat Prinz Max von Baden). Abends gebadet in der Villa, dann im Zug. Abendtafel. Abdankung. 2 Stunden Schlaf. 5 Uhr Abfahrt des Zuges, nächste Station in die Autos, dann über die belgische Grenze nach Holland.“
Worüber Zigtausende von Buchseiten gefüllt wurden und werden, worüber Generationen von Historikern sich die Köpfe zerbrachen und zerbrechen: In diesen wenigen dürren Zeilen sehen wir, was man im unmittelbaren Dunstkreis der sinkenden Macht daraus macht. Eine Randnotiz scheinbar, kaum mehr, verfasst von einem der letzten Adjutanten Kaiser Wilhelms II. Vielleicht von Oberstleutnant und General
à l suite des Kaisers Otto von Estorff. Oder auch von Hauptmann Sigurd von Ilsemann, der am 1. August 1918 als Letzter zum Adjutanten ernannt wurde und schließlich bis zu Wilhelms Tod an dessen Seite blieb.
Die gleichzeitig verstörende wie faszinierende Nüchternheit dieser Notizen ist dem schönen Band Kaisertage zu entnehmen, in dem Paul Schönberger und Stefan Schimmel die bisher unveröffentlichten Aufzeichnungen der Kammerdiener und Adjutanten des letzten deutschen Kaisers gesammelt und, mit historischem Bildmaterial sowie einigen Erläuterungen versehen, publiziert haben. Sie stehen in scharfem Kontrast zu den revolutionären Geschehnissen, die den Übergang von der deutschen Monarchie zur Weimarer Republik kennzeichnen und über die im Jubilä
umsjahr 1919 eine erkleckliche Anzahl Bücher aus verschiedenen Perspektiven berichten.
Mit der Person Wilhelms II. befasst sich etwa Lothar Machtan in Kaisersturz, allerdings verbleibt er nicht beim Kaiser, sondern nimmt weitere Handelnde in den Fokus, um entlang der entscheidenden Personen zu erklären, wie es zu diesem totalen Zusammenbruch des Reiches kommen konnte, obwohl noch bis zuletzt auch ein durchaus geordneter Übergang aus den Kriegswirren in eine andere Zeit möglich gewesen wäre. Namentlich geht es Machtan vor allem um Prinz Max von Baden, den letzten Kanzler des Kaisers sowie um Friedrich Ebert, den Sozialisten, der doch nicht ganz von der Idee der Monarchie lassen konnte.
BIOGRAFISCHE ZUGÄNGE
Überhaupt: die Sozialisten, die in den Tagen der Revolution mit ihren Arbeiter- und Soldatenräten doch als die großen Gewinner in die Geschichte hätten eingehen können. Warum diese Perspektive von kurzer Dauer war und die politischen Lager sich in der Weimarer Republik so zerfleischten, dass Deutschland 1933 in eine zunächst kaum für möglich gehaltene noch größere Katastrophe laufen konnte, lässt sich auch an biografischen Zugängen zeigen. So hat Bernhard Grau über Kurt Eisner 1867-1919 geschrieben, den Frontmann der bayerischen Novemberrevolution, dessen Visionen und Pläne schon im Februar 1919 durch den Mordanschlag eines völkischen Antisemiten zunichtegemacht wurden. In Eisners Leben zeigt sich, was hätte werden können, wenn es mehr von seiner Qualität gegeben hätte. Was wurde, obwohl es durchaus Politiker von Format gab, zeigt exemplarisch die Biografie von Hermann Müller, die Peter Reichel unter dem Titel Der tragische Kanzler verfasst hat. Allein die Tatsache, dass dieser Name selbst historisch interessierten Personen oft zunächst nichts sagt, zeigt schon die Tragik der Figur. Müller war der letzte demokratisch gewählte Kanzler der Weimarer Republik, einer ihrer Mitgründer, Vorsitzender der SPD und nicht nur am Ende, sondern auch zu Beginn, von März bis Juni 1920, schon einmal Kanzler. Eine wichtige Figur also, an der sich sowohl die Unfähigkeit der SPD, die Dinge in den Griff zu bekommen zeigt, als auch die Tatsache, dass die Dynamik der Verhältnisse bisweilen den talentiertesten Politiker überrollen kann.
Apropos Dynamik der Verhältnisse: Vor den Ereignissen des Jahreswechsels 1918/19 lag die Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg, um die sich so viele Legenden ranken, dass es kaum noch möglich ist, ein klares Bild zu bekommen. Einen neuen
Anlauf, um zu erklären „Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor“(so der Untertitel) nimmt Holger Afflerbach in Auf Messers Schneide. Ein wenig an Christopher Clarks „Schlafwandler“erinnernd, wird die Lage detailliert betrachtet und neben der deutschen Verantwortung für den Kriegsausbruch auch das Verhalten der Alliierten kritisch reflektiert, mit dem ein deutlich früheres Ende des Sterbens auf den europäischen Schlachtfeldern möglich (aber taktisch nicht erwünscht) gewesen wäre.
Zu einer kritischen Betrachtung des Kriegsendes und seiner Auswirkung auf die nachfolgenden Ereignisse kommt Gerd Krumeich in Die unbewältigte Niederlage. Krumeich deutet den verlorenen Krieg als „Trauma“, das die Demokratie der Weimarer Republik so sehr belastete, dass sie darunter zusammenbrechen musste, weil selbst die demokratischen Kräfte unter dem Eindruck dieses Traumas zu viele Fehler machten.
AUFBRUCH IN EINE NEUE ZEIT
Ende 1918 war zunächst mal endlich das große Gemetzel auf den Schlachtfeldern vorüber, und während Kaiser Wilhelm sich auf den Weg von Spa in Belgien nach Amerongen in Holland machte und zwischendurch notgedrungen abdankte, brach in ganz Deutschland die Revolution der Arbeiter- und Soldatenräte aus. Robert Gerwarth deutet diesen Vorgang im Titel seines Buches programmatisch. Die größte aller Revolutionen, das mutet doch zunächst erstaunlich an, denkt man darüber nach, wie wenig scheinbar in den Weimarer Jahren von den Ansprüchen der Revolutionäre übrig blieb. Für Gerwarth jedoch ist der November 1918 ein „Aufbruch in eine neue Zeit“, der nicht nur mit der autoritären Monarchie Schluss machte, sondern auch einer kurzen Blütephase demokratischen Staatsgebarens auf deutschem Boden den Weg bereitete, eines Gebarens, für den der deutsche Untertan in der Historie selten geschaffen schien und das sich erst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zumindest einigermaßen durchgesetzt zu haben scheint.
Ins gleiche Horn stoßen Lars-Broder Keil und Sven Kellerhoff mit ihrem sprechenden Titel Lob der Revolution. Auch hier wird die scheinbar misslungene Revolution zur Geburtshelferin der deutschen Demokratie umgedeutet und damit vom Mythos befreit, eigentlich nur Chancen verpasst zu haben. Die Übergangszeit zwischen Kriegsende und dem Beginn einer neuen Zeit beschreibt Andreas Platthaus in 18/19 – Der Krieg nach dem Krieg flüssig und übersichtlich.
Von der Revolution, ihren „Märzgefallenen“von Berlin oder den in München ermordeten Eisner und Landauer führt ein direkter Weg nach Versailles, jenem Ort, an dem vielleicht schon die Grundlage für Hitler und den zwölfjährigen Terror des Tausendjährigen Reiches gelegt wurde. Am 18. Januar 1919 wird im Uhrensaal des französischen Außenministeriums die Friedenskonferenz eröffnet, auf den Tag genau 48
Jahre, nachdem im Schloss von Versailles das Deutsche Kaiserreich proklamiert worden war, ein symbolträchtiges Datum also, um den Deutschen zu zeigen, wo der Hammer hängt. Dieses Bestreben jedoch, den vermeintlich einzigen Kriegstreiber zutiefst zu demütigen, wird sich in der Folge als Garant für politische Instabilität in Europa herausstellen. Nicht umsonst trägt das umfangreiche Buch von Jörn Leonhard zum Thema den Titel Der überforderte Frieden. Auf weit über 1000 Seiten zeigt Leonhard dezidiert, warum der Übergang vom Krieg in einen stabilen und geordneten Frieden nicht gelingen konnte. Alle handelnden Politiker waren mit der Situation überfordert, Eckart Conze nennt das, was man sich vorgestellt hatte, im Titel seines Buches Die große Illusion und gibt ihm den bezeichnenden Untertitel „Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt“. Denn um nichts weniger ging es den alliierten Siegern, die die einmalige Chance sahen, Deutschland in der Bedeutungslosigkeit versinken zu lassen und damit dem grausamen Wiederaufstieg in Gestalt des Naziregimes gleichsam den Weg bereiteten. Auch in diesem Sinne war der Versailler Vertrag Das letzte Echo des Krieges, wie Susanne Brandt es in ihrem gleichnamigen Buch beschreibt.
DIE ERSTE DEUTSCHE DEMOKRATIE
So sehr auf europäischer Ebene entscheidende Fehler gemacht wurden, so sehr gilt es doch zu würdigen, dass aus den Trümmern des Krieges eine Demokratie entsprang, die sich zwar letztlich als nicht stark genug erweisen sollte, trotzdem aber als erster ernsthafter Versuch eines echten demokratisch organisierten Staatswesens auf deutschem Boden nicht genug gewürdigt werden kann. Heinrich August Winklers Weimar 1918-1933 – Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie zeichnet alle Facetten der Weimarer Republik nach, während Horst Dreier und Christian Waldhoff als Herausgeber sich auf einen entscheidenden und häufig fehlinterpretierten Teil der Geschichte konzentriert haben. In Das Wagnis der Demokratie geht es, so der Untertitel, um „Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung“. Das klingt nach Juristenlatein, greift in den einzelnen Kapiteln jedoch einen der wichtigsten Punkte des Scheiterns der Republik aus ganz verschiedenen Perspektiven auf. Bis heute gilt vor allem der Notstandsartikel 48 der Reichsverfassung als ihre Achillesferse, die dafür gesorgt hat, dass am Ende der hoffnungsvollen Demokratie der Absturz in die Diktatur stand. Das Buch revidiert dieses Urteil und gibt damit auch dem Versuch, eine echte Demokratie in Deutschland zu etablieren, seine Würde zurück.
Wer auf 1919 blickt, denkt automatisch zuerst an Weimar, an Versailles, vielleicht noch an München und Berlin, wie es ja auch die hier erwähnten Werke überwiegend widerspiegeln. Doch natürlich „passierte“1919 auch im restlichen Deutschland, und auch dazu hat der Novitätenmarkt etwas zu bieten. Freya Klier, Mitbegründerin der DDR-Friedensbewegung, hat sich angeschaut, wie es in Dresden 1919 zuging, und diagnostiziert auch hier nicht weniger als „Die Geburt einer neuen Epoche“. Die Hamburger Verhältnisse nimmt der großformatige Band Revolution! Revolution? Hamburg 1918/19 ins Visier.
Auch ein Buch über die Hauptstadt soll hier Erwähnung finden, weil es zu den am schönsten gestalteten zum Thema gehört. Berlin in der Revolution 1918/1919 ist ein opulenter Text-Bild-Band, der sich schwerpunktmäßig mit den Auswirkungen auf „Fotografie/Film/Unterhaltungskultur“beschäftigt und somit die Zwiespältigkeit dieser Zeit zwischen Zusammenbruch und Aufbruch sehr schön vergegenwärtigt.
Wer vergessen sollte, dass mit dem Kriegsende auch das große Habsburgerreich endgültig im Orkus der Geschichte verschwand, kann sich in verschiedenen Titeln anschauen, was jenseits der südlichen Grenze Deutschlands geschah. Die erste Stunde Null haben Alfred Pfoser und Andreas Weigl ihr Buch genannt, in dem sie den „Gründungsjahren der österreichischen Republik 1918 – 1922“nachspüren und Andreas Karsten spielt im Titel seines Buches Der Untergang der Welt von gestern bewusst mit dem berühmten Zweig-Buch, zieht seine Betrachtung jedoch entlang des Wiener Dichters Arthur Schnitzler auf, der bis heute vielen als Autor eben jenes untergegangenen Habsburgerreiches gilt, jedoch auch nach dem Krieg noch Bedeutendes geschaffen hat.
Doch nicht nur andere Städte oder Staaten stehen im Fokus, auch Einzelaspekte wie die Einführung des allgemeinen Frauenwahlrechts finden ihre verdiente Betrachtung, etwa in 1919 – Das Jahr der Frauen von Unda Hörner. Dieses Thema findet sich auch in Birte Försters 1919 – Ein Kontinent erfindet sich neu, das einen Blick auf die Lage und die Aufbruchsstimmung in ganz Europa wirft. Last but not least macht sich Herbert Kapfer in 1919 Fiktion Gedanken darüber, wie die Geschichte auch anders hätte verlaufen können, wenn kleine Stellschrauben sich in eine andere Richtung bewegt hätten.
Die Adjutanten des deutschen Kaisers hätten vermutlich auch das in ihrer nüchternen Art nur beiläufig notiert und wie ein Ereignis unter vielen aussehen lassen. In vielerlei Hinsicht jedoch kann die Bedeutung des Jahres 1919 und all dessen, was mit ihm zusammenhängt, jedoch für heutige Standortbestimmungen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Lektüre der Neuerscheinungen zum Thema könnte das nicht deutlicher vor Augen führen.