Galicische Geheimnisse
Ein Roman wie eine Telenovela: Die spanische Autorin Dolores Redondo entwirft ein buntes Panoptikum sündiger und anderer adliger Leute vor der reizvollen Landschaft Galiciens.
Dolores Redondos Roman „Alles, was ich dir geben will“
Der Schriftsteller Manuel muss den Schock seines Lebens verarbeiten, als eines Tages die Polizei vor seiner Tür steht und ihm die Nachricht überbringt, sein Mann sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Nicht nur der Tod Alvaros kommt reichlich unerwartet, sondern auch die Erkenntnis, dass dieser offenbar über Jahre ein Doppelleben geführt hatte: Aus einer alteingesessenen adligen Familie im nordspanischen Galicien stammend, hatte Alvaro früh den Kontakt dorthin abgebrochen und nie über seine Herkunft gesprochen. Nun muss Manuel erfahren, dass sein Mann nach dem Tod des Vaters wenige Jahre zuvor die Familiengeschäfte übernommen hatte, ohne ihm davon zu erzählen, und sich immer in Galicien aufhielt, wenn er vorgab, auf Geschäftsreise in Barcelona zu sein. Aber warum nur?
Manuel fährt nach Galicien und stößt dort auf eine angeheiratete Verwandtschaft, die ihn zwar nicht mit offenen Armen empfängt, aber auch nicht grundsätzlich abstoßend wirkt. Doch von einem ehemaligen Kriminalbeamten erfährt er: Es gab Auffälligkeiten bei Alvaros angeblichem Unfalltod und die Polizei habe den Fall nur der einflussreichen Familie zuliebe vertuscht. Und schon findet der hochkultivierte Manuel sich in einem gemeinsamen Ermittlungsteam mit einem verfressenen, ungehobelten, homophoben ExPolizisten wieder …
Das Personal dieses Buches wirkt durch die Bank wie einer Telenovela entsprungen. Das hilft ungemein bei der Lektüre, denn der Roman ist sehr figurenreich, und die überdeutlich herausgestellten Figurenklischees erleichtern die Wiedererkennung einzelner Personen. Dolores Redondo hatte beim Schreiben vermutlich auch nicht im Sinn, hohe Kunst zu schaffen. An Maßstäben eines schreibenden Kunsthandwerks gemessen aber funktioniert dieser Roman ziemlich prima, denn die Autorin hat ein Händchen dafür, die Geheimnisse ihrer Figuren in genau den richtigen Dosierungen nach und nach preiszugeben. Dass ein sehr, sehr dunkles, tief sitzendes Familiengeheimnis am Grunde des Ganzen schlummert, ist von Anfang an klar. Worin genau es besteht, und warum Alvaro partout nicht wollte, dass Manuel von seinen familiären Verpflichtungen erfuhr, wird erst ganz zum Schluss offenbart. Dazwischen liegen und dazu kommen allerlei Nebenund Untergeheimnisse, die ebenfalls der Klärung bedürfen. Wie zum Beispiel: Beging Alvaros jüngster Bruder wirklich Selbstmord? Hatte die Frau des zweiten Bruders ein Verhältnis mit dem Gärtner? Was passierte damals in der Klosterschule? Und woher rührt die Spannung zwischen dem Polizisten und seiner Frau? Insgesamt erinnert die Geschichte an das einst so beliebte Brettspiel Cluedo („Wer ermordete Graf Eutin?“), und auch das Setting ist nicht unähnlich. Das luxuriöse Ambiente des alten galicischen Großgrundbesitzes, das Redondo als Umgebung für ihren Roman gewählt hat, und die Spannung zwischen dieser Parallelwelt, worin die Angehörigen des alten Adels in dekadentem Nichtstun existieren, und der sozialen Wirklichkeit drum herum stellt eine besondere Atmosphäre her. Es ist eine Märchenwelt für Erwachsene, mit einem prachtvollen Herrenhaus, einer idyllischen Landschaft voller Flüsse und Weinberge, und der Vorstellung plötzlichen, ungekannten Reichtums – denn Manuel, der etwas blass bleibende Hauptprotagonist des Romans, wurde von Alvaro als Universalerbe dieser ganzen Herrlichkeit eingesetzt. Dass er sich das Ganze erst mit etwas kriminalistischer Ermittlungsarbeit verdienen muss, ist da wirklich nur gerecht!