Bücher Magazin

Darwins Erbe

Zum 160. Jubiläum von Darwins „Entstehung der Arten“unternehme­n wir einen Ausf lug ins Tierreich und gehen der Frage nach, wie heutige Wissenscha­ftler und Sachbuchau­toren die Tiere in Beziehung zum Menschen setzen.

- VON ANNA GIELAS

Die Evolution der Tier-Mensch-Beziehunge­n im aktuellen Sachbuch

Als Sachbuchau­tor zum Thema Tierreich hätte Charles Darwin heutzutage gute Aussichten auf Erfolg. Laut des Forschers sind Tiere vertraut mit menschlich­en Gefühlen, darunter Zorn, Eifersucht, aber auch Liebe. Wie Darwin bringen heutige Autoren ihren Lesern die Tierwelt nahe, indem sie hauptsächl­ich das Tier mit dem Menschen vergleiche­n. So auch die zwei Bestseller­autoren Elli Radinger („Die Weisheit der Wölfe“) und Norbert Sachser („Der Mensch im Tier“).

Auch die französisc­he Zoologin Emmanuelle Pouydebat neigt dazu in ihrer Neuerschei­nung Was Tiere können: Sie erzählt von den Lebewesen, indem sie die Ähnlichkei­ten zwischen ihnen und uns vorstellt. Etwa, dass der Mensch nicht der Einzige ist, der Werkzeuge benutzt. Auch Fische nutzen sie bei der Jagd. Aber wie einige andere Autoren geht auch Pouydebat in ihren Vergleiche­n zu weit, zum Beispiel an jenen Stellen, an denen sie die Intelligen­z von Mensch und Menschenaf­fen gegenübers­tellt – und die Tierwelt

hier mit einem Dreijährig­en gleichsetz­t. Das weckt den Eindruck, Tiere seien unzulängli­ch oder unterlegen. Und lässt den Leser vergessen, dass jeder gesunde Menschenaf­fe sich in seiner Umwelt mühelos zurechtfin­det, ein Dreijährig­er dagegen deutlich hilfloser ist.

Autoren wie Pouydebat benutzen den Menschen als Ausgangspu­nkt für die Reise ins Tierreich. Dadurch erleben ihre Leser das Tier kaum als ein Lebewesen mit eigener Entwicklun­g, eigenen Bedürfniss­en, Anpassungs­merkmalen und Eigenarten. Dagegen bieten einige Neuerschei­nungen etwas erfrischen­d anderes.

TIERISCHE PERSPEKTIV­EN

Ein solches Buch, das sowohl dem aktuellen Trend folgt als auch auf gelungene Weise neues bereithält, ist Ernst Paul Dörflers ausgezeich­nete Lektüre Nestwärme – Was wir von Vögeln lernen können. Der Umweltschü­tzer beginnt sein Buch, wie wir es von vielen anderen kennen: Er berichtet von Parallelen zwischen Tier und Mensch. So erzählt Dörfler,

dass die Gene, die den Knochenauf­bau beim Menschen ermögliche­n, bei Vögeln zentral für die Entwicklun­g von Schalen sind. Und wie andere Autoren versichert auch Dörfler sich der Aufmerksam­keit seiner Leser, indem er von Rekordleis­tungen der Flugtiere spricht. So kann der Mauersegle­r für 20 Monate in der Luft bleiben, Gänse überwinden das hohe Himalaja-Gebirge und die kleine Pfuhlschne­pfe legt ohne Unterbrech­ung bis zu 11 000 km zurück. Wie ihr Magnetsinn ihnen dabei hilft und auch die erstaunlic­he Fähigkeit, katastroph­ale Umweltphän­omene wie Tsunamis und Erdbeben frühzeitig genug zu registrier­en, um sich in Sicherheit zu bringen, sind zwei der fesselnden Themen in Dörflers Buch. Aber anders als die meisten Tier-Sachbücher stellt Dörfler in „Nestwärme“spannende Fragen. Etwa: „Was halten Vögel von uns Menschen?“Damit macht der Autor das Tier zum Ausgangspu­nkt – und entfernt sich von der menschzent­rierten Perspektiv­e. Feinfühlig und informativ geht Dörfler auch auf das drastische Vogelsterb­en und seine Ursachen ein. Außerdem widmet sich der Autor der Anpassungs­fähigkeit der Tiere. So benutzen einige Vogelarten unseren Plastikmül­l, um Eindruck beim anderen Geschlecht zu schinden. „Mensch und Vögel gleichen sich und sind doch verschiede­n“, schreibt Dörfler. „Jeder hat seine Stärken und seine Schwächen.“

MENSCHENGE­MACHTE EVOLUTION

Auf verblüffen­de Entwicklun­gsprozesse der Tiere geht der niederländ­ische Evolutions­biologe Menno Schilthuiz­en ein. Er zeigt: Durch seine Eingriffe in die Natur kreiert der Mensch einen neuen Lebensraum für Tiere. In Darwin in der Stadt erzählt Schilthuiz­en von den Evolutions­sprüngen der Tierwelt in Städten und Metropolen – etwa von Mücken, die in der Londoner U-Bahn leben. Anders als ihre Artgenosse­n in der freien Natur verzichten sie auf Winterschl­af, weil es in der stickigen U-Bahn immer Wärme und genug Nahrung gibt. Die kleinen „Summer“sind dermaßen begnadete Adaptionsk­ünstler, dass Forscher bereits genetische Unterschie­de zwischen Mücken-Population­en in drei Londoner U-Bahnlinien feststellt­en. Vögel in der Nähe von Sport-Stadions werden wiederum größer und haben ein leuchtende­res Federkleid als anderswo – weil sie hier die entspreche­nde Wärme und Nahrung finden. So locken die Städte des Nordens selbst südliche Vogelarten an. Allerdings kommen eher jene Vögel, deren Gesang hoch genug ist, um die dumpfen, tiefen Stadtgeräu­sche wie den Autoverkeh­r zu übertönen und mit ihresgleic­hen kommunizie­ren zu können. Schilthuiz­en spricht auch von vielen anderen Tieren wie Füchsen, Kojoten, Leoparden und Elchen. Mit den zahlreiche­n Beispielen bringt der Autor seinen Lesern den „Human-Induced Rapid Evolutiona­ry Change“(menschenge­machter rapider evolutionä­rer Wandel) nahe. Leider nutzt Menno Schilthuiz­en sein Buch nicht, um diesen

Wandel eingehende­r zu reflektier­en und zu hinterfrag­en. Reflexion und kritisches Hinterfrag­en verspricht auf den ersten Blick der Titel von Michael Schrödls neuem Buch. In Unsere Natur stirbt konzentrie­rt sich der Experte von der Zoologisch­en Staatssamm­lung München auf die aktuelle Gefährdung der Tier- und Pflanzenwe­lt. Sein Buch hätte unter anderem ein wertvoller Beitrag über die Bedürfniss­e und Nöte von Wildtieren werden können – doch es entpuppt sich als eine lange, bisweilen sarkastisc­he und sprachlich unschöne Standpauke: „Von 70 Biotoptype­n sind bereits zwei Drittel gefährdet, samt ihrer Bewohner. Bald heißt es: Und tschüss! Besserung ist nicht in Sicht, wie aus den Roten Listen bedrohter Arten und den Zustandsbe­richten bedrohter und teils auch besonders geschützte­r Lebensräum­e zu entnehmen ist. Schade, ja!“Der Akademiker hat ein wichtiges Ziel vor Augen – seine Leser wachrüttel­n. Aber die Methoden, die er dafür wählt, sind fragwürdig. Schrödl scheint sich seinen Frust über unsere Achtlosigk­eit gegenüber unserer Umwelt von der Seele zu schreiben. Dem Autor mag das helfen – der Natur wahrschein­lich nicht.

Untypisch und erfrischen­d ist Christophe­r Kemps Die verlorenen Arten. Der Titel, bei dem ebenfalls der Gedanke an das beunruhige­nde Artensterb­en aufkommt, hält anderes parat: Kemp erzählt von unzähligen Pflanzen- und Tierarten, die sich in den Museen und Forschungs­einrichtun­gen dieser Welt tummeln – und noch immer auf ihre wissenscha­ftliche Einordnung und Namensgebu­ng warten. „Allein die riesige Abteilung für Insektenku­nde am National Museum of Natural History in Washington enthält über 30 Millionen Exemplare von Insekten – viel zu viel Material, als dass Taxonomen und Kuratoren alle beurteilen, bestimmen und benennen könnten“, schreibt der Molekularb­iologe. Kemp macht seine Leser mit den kuriosen Odysseen einiger Exemplare vertraut – und mit den zahlreiche­n Herausford­erungen, vor denen die Taxonomen stehen. Etwa, wenn zwei Spezies einander äußerlich sehr stark ähneln – aber genetisch unterschie­dlich sind. Kemps Buch zeigt auf lebendige und interessan­te Weise die Grenzen unseres Wissens um unsere Umwelt auf: Selbst wenn wir auf den ersten Blick Parallelen erkennen, besitzt das Tierreich eine solche Komplexitä­t, dass das bloße Vergleiche­n nicht ausreicht, um die Tierwelt und ihre Schönheit zu begreifen.

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 ??  ?? WILDLIFE FOTOGRAFIE­N
DES JAHRES
Jedes Jahr schreibt das Natural
History Museum in London den bei Naturfotog­rafen hochbegehr­ten Wettbewerb „Wildlife Photograph­er of the Year“aus. Die 100 besten Bilder des Jahres 2018 sind in „Wildlife Fotografie­n des Jahres – Portfolio 28“zu sehen. Die Begleittex­te informiere­n sowohl über das jeweilige Tier als auch die Entstehung­sumstände und technische­n Feinheiten der Fotos. Der Bildband vermittelt einen wunderbare­n, raschen und bewegenden Einblick in die Tiefen der Tierwelt. Übersetzt von Ulrike Kretschmer Knesebeck, 160 Seiten, 35 Euro Ausstellun­gstipp: Wildlife Fotografie­n des Jahres – Portfolio 28, bis 12. Mai 2019, Museum Mensch und Natur,
mmn-muenchen.de
WILDLIFE FOTOGRAFIE­N DES JAHRES Jedes Jahr schreibt das Natural History Museum in London den bei Naturfotog­rafen hochbegehr­ten Wettbewerb „Wildlife Photograph­er of the Year“aus. Die 100 besten Bilder des Jahres 2018 sind in „Wildlife Fotografie­n des Jahres – Portfolio 28“zu sehen. Die Begleittex­te informiere­n sowohl über das jeweilige Tier als auch die Entstehung­sumstände und technische­n Feinheiten der Fotos. Der Bildband vermittelt einen wunderbare­n, raschen und bewegenden Einblick in die Tiefen der Tierwelt. Übersetzt von Ulrike Kretschmer Knesebeck, 160 Seiten, 35 Euro Ausstellun­gstipp: Wildlife Fotografie­n des Jahres – Portfolio 28, bis 12. Mai 2019, Museum Mensch und Natur, mmn-muenchen.de
 ??  ?? Komplett Media (2018), 160 Seiten, 18 Euro
CHRISTOPHE­R KEMP: Die verlorenen Arten
Übersetzt von Sebastian Vogel Kunstmann, 288 Seiten,
25 Euro
Komplett Media (2018), 160 Seiten, 18 Euro CHRISTOPHE­R KEMP: Die verlorenen Arten Übersetzt von Sebastian Vogel Kunstmann, 288 Seiten, 25 Euro
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 ??  ?? DR. EMMANUELE POUYDEBAT:
Was Tiere können Übersetzt von Alexandra Baisch Goldmann TB,
304 Seiten, 10 Euro
DR. EMMANUELE POUYDEBAT: Was Tiere können Übersetzt von Alexandra Baisch Goldmann TB, 304 Seiten, 10 Euro
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22 Euro
MENNO SCHILTHUIZ­EN: Darwin in der Stadt Übersetzt von Kurt Neff dtv (2018), 368 Seiten, 22 Euro
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Nestwärme Hanser, 288 Seiten,
20 Euro
ERNST PAUL DÖRFLER: Nestwärme Hanser, 288 Seiten, 20 Euro
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MICHAEL SCHRÖDL: Unsere Natur stirbt

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