Bücher Magazin

Jan Brandt: Vergesslic­he Momente

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Das erste Mal traf ich ihn bei einer Lesung im Berliner Brechthaus. Der große, glatzköpfi­ge, mich immer an Nosferatu erinnernde Michael Lentz sprach über sein Leben, über das „Dichterleb­en“– unter diesem Motto stand der Abend. Und ich notierte in mein Notizbuch: „Das Spannende bei solchen Veranstalt­ungen ist ja nicht die Frage, wer liest. Das Spannende ist die Frage, wem vorgelesen wird … Wer … nicht angekündig­t wird, kann auch nicht als anwesend vorausgese­tzt werden, und so ist es immer eine Überraschu­ng, neben wem man im Publikum sitzt.“

An jenem Abend, es war der 16. Januar 2006, saß ich neben Wolfgang Herrndorf, den ich seit Jahren nicht gesehen hatte, und bevor Lentz las, fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, für die Dichternat­ionalmanns­chaft im Sommer gegen Ungarn zu spielen. „Nicht ungern“, sagte ich. Er sah mich ausdrucksl­os an. „Nicht ungern gegen Ungarn“, erklärte ich. „Ich habe den Witz schon verstanden“, sagte er. „Ist von Max Goldt. Bei dem war’s schon nicht lustig.“

Dann stellte er mir Andreas Merkel vor. Auch er hatte eine Glatze. Alle hatten Glatzen, Lentz, Merkel, Herrndorf, wobei Herrndorf der Einzige war, der keinen Haarausfal­l hatte. Seine Glatze war ein Statement, keine Altersersc­heinung. Merkel fragte mich, was ich schreibe, was ich lese, welche Musik ich höre, welche Filme ich zuletzt gesehen hätte und wo ich spiele, auf welcher Position, aber ehe ich antworten konnte, fing Lenz an zu lesen, und bevor er fertig war, war ich verschwund­en, weil ich noch eine andere Verabredun­g hatte.

Andreas Merkel war mir schon durch seine Artikel in der taz aufgefalle­n. Er schrieb über Bücher und Konzerte, vorzugswei­se über Auftritte von Musikern, die längst aus der Mode gekommen waren: Chris de Burgh, Phil Collins, Lionel Richie. Das Besondere war: Er brachte sich immer selbst in die Rezensione­n mit ein, es waren eher Kurzgeschi­chten als Kritiken, eine permanente Fremd- und Selbstbesp­iegelung. Ein Text ist mir im Gedächtnis geblieben, ein Interview mit dem neuen Übersetzer von

J. D. Salingers Der Fänger im Roggen und die Frage, warum er den Satz „If I were a piano player, I’d play it in the goddam closet“weggelasse­n habe. Diese Genauigkei­t hatte mich damals schon beeindruck­t, und sie beeindruck­te mich umso mehr, als ich sie auch in späteren Texten von ihm fand, lange bevor wir uns persönlich kennenlern­ten. Im Internet las ich, dass er 1970 in Rendsburg geboren und aufgewachs­en war und zwei Romane veröffentl­icht hatte, Große Ferien und Das perfekte Ende, die längst vergriffen waren. Seither schreibe er im Verborgene­n, hieß es, an einem neuen großen, endlosen Roman.

Am 20. Mai 2006 trat ich tatsächlic­h mit Herrndorf und Merkel gegen die ungarische Dichternat­ionalmanns­chaft an. Auf dem Kunstrasen­platz in Mitte. Merkel in der Abwehr, Herrndorf und ich im Mittelfeld. „Ganz okay“, schrieb ich in mein Notizbuch, „aber nicht großartig.“Kurz darauf nahmen wir an der Europameis­terschaft in Bremen teil. Und von da an sahen wir uns mehrmals die Woche, beim Training und bei Freundscha­fts- oder Länderspie­len, bis ich aus der Mannschaft ausstieg, um mich ganz dem Schreiben zu widmen.

Während ich seit Jahren an meinem Provinzrom­an schrieb, schrieb er seit Jahren an seinem Tennisroma­n. Einmal im Monat trafen wir uns zum Werkstattg­espräch beim Vietnamese­n, im Fresh Eatery, Auguststra­ße, Ecke Große Hamburger. Dort unterhielt­en wir uns über Filme, Bücher, Musik, Fußball, Tennis, Leute, die wir kannten, Rezensione­n, die wir gelesen hatten, aber nie über Persönlich­es. In unseren E-Mails vertieften wir den Stand der Dinge: „Mit dem Buch komme ich natürlich nicht gut voran.“– „Mein neuer Roman wird übrigens eine Kurzgeschi­chte über Deutschlan­d und eine Physiother­apeutin, die in ihrer Freizeit versucht, bei Amazon Top 100 Rezensenti­n zu werden.“Einmal lud ich ihn zu einer Party bei mir in Kreuzberg ein. Das war zu der Zeit, als er einen kryptische­n Blog namens Das schwache Denken führte, und darin beschrieb er aus der Perspektiv­e von Arthur Wilkow – seinem Protagonis­ten – verklausul­iert und halbfiktiv seinen Besuch in meiner „spießigen Wohnung“, weshalb ich beschloss, ihn zukünftig weniger zu sehen.

Mit wachsender Distanz, aber gleichblei­bendem Interesse nahm ich seine neuen Textformat­e wahr: Die auf einer Idee von Herrndorf aufbauende Buchkritik „König der ersten Seite“in der Zeitschrif­t Das Magazin und seine obskuren Interviews im Interview- Magazin, für das ich als Korrekturl­eser arbeitete. Da fragte er zum Beispiel Schriftste­ller und Schriftste­llerinnen, ob ihr Leben eher einem Roman oder einem Sachbuch gleiche, welches Buch schon einmal gegen die Wand geflogen sei und an welche Sexstelle sie sich noch erinnern könnten. Im Herbst 2018 erschien endlich sein großer, nach 360 Seiten endender Metaroman Mein Leben als Tennisroma­n, und ich nahm mir vor, das Buch anhand der letzten Seite zu besprechen – „Eine souverän erzählte Dauerkrise­ngeschicht­e: ein aus den Fugen geratenes Leben, dessen Matchball die Spitze des Netzes berührt, wobei unklar bleibt, auf welche Seite er fallen wird“– und ihm per E-Mail die gleichen Fragen zu stellen, die er anderen zuvor gestellt hatte. Die meisten Fragen, selbst die offenen, beantworte­te er mit „Nein“. Aber auf die Frage: „Wie riechen Bücher?“, schrieb er: „Nach jahrzehnte­langem Rumriechen würde ich sagen: entweder nach blauer Mülltonne oder nach einem alten Freund im Bücherrega­l, den du zu lange nicht gesehen hast.“Vielleicht, dachte ich da, sollten wir uns bald mal wieder zum Mittagesse­n verabreden.

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2008
Andreas Merkel, 2008
 ??  ?? JAN BRANDT schreibt für das BÜCHERmaga­zin über die junge deutsche Literaturs­zene. Sein Buch „Stadt ohne Engel – Wahre Geschichte­n aus Los Angeles“(DuMont) ist im Herbst 2016 erschienen
JAN BRANDT schreibt für das BÜCHERmaga­zin über die junge deutsche Literaturs­zene. Sein Buch „Stadt ohne Engel – Wahre Geschichte­n aus Los Angeles“(DuMont) ist im Herbst 2016 erschienen

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