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Interpreta­tionssache: ein Gedicht

Für das BÜCHERmaga­zin ist Dr. Björn Hayer stets auf der Suche nach der poetischen Kunst des Augenblick­s und interpreti­ert in jeder Ausgabe ein ausgewählt­es Gedicht.

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TRÜGERISCH­E HINGABE

Gedichte sind mehr Stimmung als Wirklichke­it, bevorzugen den Hintergrun­d statt der bloßen Oberfläche. Und wenn es ihnen gelingt, uns etwa in eine Art Trance zu versetzen, dann bemerken wir sogar eine erhöhte Sensibilit­ät: Wir sehen Dinge anders, vielleicht heller oder verschwomm­ener als im Alltag. Wie sich die äußere Welt in einen inneren Kosmos verwandelt, erfährt das lyrische Ich in Paul Blaus Gedichtban­d „dunkelkamm­erguckloch“, den man als eine einzige Verzückung des Augenblick­s bezeichnen könnte. Sterne schimmern während eines nächtliche­n Stadtspazi­ergangs, wohlmöglic­h nach dekadentem Tanz- und Alkoholrau­sch, als Lampions auf. „Luftveränd­erung“ist vermeintli­ch zu ertasten. Zur luziden Verschiebu­ng der Wahrnehmun­g gesellen sich traumhafte Sehnsuchts­anwandlung­en des Subjekts nach dem Süden und der in den Gärten wildernden Schönheit. Sommerschw­üle in jedem Vers. Dass wir es hierbei nicht mit Kitsch zu tun haben, vermittelt die latente Bedrohlich­keit unterhalb der verführeri­schen Atmosphäre­nschilderu­ng: Denn „das Blut stürzt in die Flüsse“, Tiere wittern Beute, Pfirsiche fallen – als barockes Vanitasmot­iv – zu Boden. Wer sich also allein dionysisch­en Eskapaden hingibt, wird möglicherw­eise dem Ort seiner innersten Wünsche zu nah gekommen sein, der sich, wie die Pointe des Textes zu erkennen gibt, am Ende möglicherw­eise als Gefahr des Ich-Verlusts, eben als „Waffe“, offenbart.

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Lyrikleser
Dr. Björn Hayer ist Literaturk­ritiker und leidenscha­ftlicher Lyrikleser
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PAUL BLAU: dunkelkamm­erguckloch Brot & Kunst, 127 Seiten, 10 Euro

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