Interpretationssache: ein Gedicht
Für das BÜCHERmagazin ist Dr. Björn Hayer stets auf der Suche nach der poetischen Kunst des Augenblicks und interpretiert in jeder Ausgabe ein ausgewähltes Gedicht.
TRÜGERISCHE HINGABE
Gedichte sind mehr Stimmung als Wirklichkeit, bevorzugen den Hintergrund statt der bloßen Oberfläche. Und wenn es ihnen gelingt, uns etwa in eine Art Trance zu versetzen, dann bemerken wir sogar eine erhöhte Sensibilität: Wir sehen Dinge anders, vielleicht heller oder verschwommener als im Alltag. Wie sich die äußere Welt in einen inneren Kosmos verwandelt, erfährt das lyrische Ich in Paul Blaus Gedichtband „dunkelkammerguckloch“, den man als eine einzige Verzückung des Augenblicks bezeichnen könnte. Sterne schimmern während eines nächtlichen Stadtspaziergangs, wohlmöglich nach dekadentem Tanz- und Alkoholrausch, als Lampions auf. „Luftveränderung“ist vermeintlich zu ertasten. Zur luziden Verschiebung der Wahrnehmung gesellen sich traumhafte Sehnsuchtsanwandlungen des Subjekts nach dem Süden und der in den Gärten wildernden Schönheit. Sommerschwüle in jedem Vers. Dass wir es hierbei nicht mit Kitsch zu tun haben, vermittelt die latente Bedrohlichkeit unterhalb der verführerischen Atmosphärenschilderung: Denn „das Blut stürzt in die Flüsse“, Tiere wittern Beute, Pfirsiche fallen – als barockes Vanitasmotiv – zu Boden. Wer sich also allein dionysischen Eskapaden hingibt, wird möglicherweise dem Ort seiner innersten Wünsche zu nah gekommen sein, der sich, wie die Pointe des Textes zu erkennen gibt, am Ende möglicherweise als Gefahr des Ich-Verlusts, eben als „Waffe“, offenbart.