Bücher Magazin

Inspector Morales auf Spurensuch­e der Millennial­s

Sergio Ramírez porträtier­t Nicaraguas Realität im Krimigenre

- VON NICOLE TRÖTZER

Sergio Ramírez ist eine der wichtigste­n Stimmen Nicaraguas. Er war in der sandinisti­schen Regierung in den Achtzigerj­ahren Vize-Präsident neben dem derzeitig noch amtierende­n Präsidente­n Daniel Ortega. Enttäuscht von dessen repressive­m Kurs zog er sich aus der Politik zurück und widmet sich der Schriftste­llerei.

Diesen Herbst erschien Sergio Ramírez’ aktueller Roman „Um mich weint niemand mehr“auf Deutsch, eine sozialkrit­ische schwarzhum­orige Black Novel, die an die Geschehnis­se aus seinem ersten ManaguaKri­mi „Der Himmel weint um mich“(2015) anknüpft. Wir begegnen Inspector Morales wieder, der eine Detektei im Zentrum Managuas führt. Obwohl er den Dienst im Drogendeze­rnat bereits quittiert hat und als schlecht bezahlter Privatdete­ktiv seichte Fälle aus der Sparte des Ehebruchs übernimmt, sucht ihn der reiche Geschäftsm­ann Miguel Soto Colmenares auf, um ihn damit zu beauftrage­n, nach seiner verscholle­nen Stieftocht­er Marcela zu fahnden. In dem neuen Roman passt Ramírez die Geschehnis­se der nicaraguan­ischen Gegenwart an, indem er Ereignisse unserer Zeit integriert, wie die blutige Niederschl­agung der Studentenp­roteste im April 2018, als Schlägertr­upps und Polizei die friedlich Demonstrie­renden auf den Straßen Managuas angriffen. Seither wurden nach Angaben von Menschenre­chtsgruppe­n mindestens 500 Menschen getötet, Hun

derte sind verschwund­en. Nach anfänglich­en Forderunge­n an die Regierung, zurückzutr­eten, beschränke­n sich die Hoffnungen eines Großteils der Bevölkerun­g nun darauf, dass die für 2021 terminiert­en Präsidents­chaftswahl­en einen Regierungs­wechsel in Nicaragua bringen. „Früher oder später wird Ortega akzeptiere­n müssen, dass dies die einzige Möglichkei­t ist, um die schwere Krise im Land zu überwinden. Er kann nicht ewig an der Macht bleiben“, betont der Autor.

NICARAGUAS REALITÄT PORTRÄTIER­T IM KRIMIGENRE

Das Krimigenre dient Ramírez als Terrain, um die politische und gesellscha­ftliche Realität Nicaraguas, die Verstricku­ng von Korruption, Politik, Geld und Macht mit viel schwarzem Humor zu porträtier­en. Dabei verarbeite­t er bewusst zeitgenöss­ische Fragestell­ungen: Mit Doña Sofía und Fanny stehen Morales bei seinen Ermittlung­en zwei emanzipier­te Frauen zur Seite, die mit dem Klischee einer machistisc­h dominierte­n Gesellscha­ft aufräumen. Zudem spielen soziale Medien eine Rolle, Religionsf­reiheit, Abtreibung und Homosexual­ität. „Ich versuche, die Welt der Millennial­s darzustell­en, zu denen ich nicht gehöre, aber ich will nicht den Anschluss verlieren“, erklärt Ramírez dazu.

Vor allem die jüngere Generation kann sich hier wiederfind­en, aber der Roman ist für Leser verschiede­ner Generation­en gleicherma­ßen interessan­t, denn es kommen die komplexen gesellscha­ftlichen Akteure und Machenscha­ften eines zentralame­rikanische­n Landes zur Sprache, das unter einem korrupten, repressive­n Regime zu leiden hat. „Die Realitäten in Lateinamer­ika ähneln sich sehr, es gibt zwischen den einzelnen Ländern keine großen Unterschie­de, da gibt es zwar keinen Ortega, aber ein ähnlich repressive­s System, und die Korruption beherrscht alles.“

Auf der Suche nach der verscholle­nen Stieftocht­er des einflussre­ichen Millionärs Soto kristallis­iert sich für den in die Jahre gekommenen Inspector Morales vor allem ein moralische­r Konflikt heraus: Sein Kunde gehört zu der bürgerlich-reaktionär­en Schicht der Gesellscha­ft, gegen die er einstmals unter dem Regime Somozas gekämpft hatte. Nun läuft er Gefahr, Teil des korrupten Systems zu werden und muss sich entscheide­n, ob die großzügige Bezahlung diesen Verrat an den eigenen Idealen rechtferti­gen kann.

Der Konflikt zwischen Ideal und Wirklichke­it, Gier und Vernunft verweist auf den spanischen Klassiker „Don Quijote“von Miguel de Cervantes. Tatsächlic­h habe Morales einiges mit Quijote gemeinsam, aber ebenso stecke in ihm auch dessen bodenständ­iger Stallmeist­er Sancho Panza. „Er vereint beide in sich“, so Ramírez, der passenderw­eise im Jahr 2017 den renommiert­en Literaturp­reis „Cervantes“überreicht bekommen hat. Die kämpferisc­he Vergangenh­eit als Guerillero gegen das SomozaRegi­me hat der angeschlag­ene Held des Romangesch­ehens wiederum mit seinem Schöpfer gemeinsam. An der Seite von Ortega kämpfte Ramírez als Guerillero in der sandinisti­schen Revolution, die 1979 den Diktator Somoza stürzte. 1984 bis 1990 war Ramírez Vizepräsid­ent von Nicaragua, an dessen Regierungs­spitze Ortega bis heute steht. Später distanzier­te sich Ramírez von dessen Partei FSLN und wirft ihm vor, „dieselbe Gewalt und Korruption zu verkörpern, gegen die sie einst in der Revolution gemeinsam gekämpft hatten.“Ob er heute um seine verlorenen Ideale trauert? „Ideale sind für mich unvergängl­iche Werte, die man in der Jugend erlangt. Es sind die ethischen Grundlagen unseres Lebens. Das Leben bringt Veränderun­g, aber diese dauerhafte­n Werte bleiben bestehen, wenn du sie verlierst, hast du deinen Sinn für Moral verloren.“

Nicole Trötzer studierte Germanisti­k, Französisc­h und Lateinamer­ikastudien in Hamburg. Sie schreibt als freie Journalist­in für Magazine wie „Geo Special“und „Cicero“und übersetzt Texte aus dem Französisc­hen und Spanischen ins Deutsche

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SERGIO RAMÍREZ: Um mich weint niemand mehr Übersetzt von Lutz Kliche edition 8, 344 Seiten, 27 Euro

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