POLLY CLARK
Tiger
Übersetzt von Ursula C. Sturm
„Im Winter konnte man die Zeit auf der Zunge schmecken wie Blut. Die einzige Schwäche der Zeit war, dass sie eine Spur hinterließ. Der Schnee ermöglichte es, der Zeit zu folgen – vorwärts wie rückwärts.“Und ebenso wie die Sibirische Tigerin folgt Polly Clark den Spuren der Zeit in alle Richtungen. Von einem privaten Zoo in Devon, in dem die Primatenforscherin Frieda durch die Ankunft der versehrten Sibirische Tigerin Ambra gezwungen wird, sich ihrem eigenen Trauma zu stellen. Über Thomas, der in der russischen Taiga mit seinem Vater ein Tiger-Reservat aufgebaut hat. Bis hin zu Edith mit ihrer Tochter Sina, die in die Wildnis gezogen ist, um die Freiheit ihrer Vorfahren vom Volk der Udehe wiederzufinden. Im Zentrum von Clarks Spurensuche stehen die Tiger, dort wo die Menschen ihre Wege kreuzen, setzt sie zum nächsten Zeitsprung an. Die kanadische Lyrikerin, die für ihren Roman selbst in die sibirische Winter-Wildnis reiste, beschreibt die unberührte Naturschönheit ebenso wie die menschlichen Abgründe in dieser lebensfeindlichen Kälte poetisch und pulsierend. Ein Sog entsteht, die Fährte zu finden – auf der sich alle die Zeitsprünge zu einem Bild zusammenfügen. Fieberhaft lesend folgt man dem Überlebenskampf von Mensch und Tier bis zu einem schaurigen, aber auch hoffnungsvollen Finale. (ts)
Schmerzhaft schön: Polly Clark kommt dem wilden Wesen der Sibirischen Tiger in ihrem Roman gefährlich nah.
EISELE, 432 Seiten, 22 Euro