Identität zur Sprache bringen
Interview mit Sandra Gugic
In ihrem Roman „Zorn und Stille“erzählt Sandra Gugi die Geschichte einer serbischen Gastarbeiterfamilie von den 1980er- bis in die 2000er-Jahre: von den Eltern, die auf ein besseres Leben in Wien hofften; von der Tochter Billy, die die Familie mit 16 Jahren verlässt, um ihren eigenen Weg zu finden; von dem Sohn, der vor Jahren verschwunden ist. Auf 240 Seiten entfaltet sich ein beeindruckendes, komplexes Bild dieser Familie – und immer wieder steht die Frage im Raum, was Heimat, Herkunft und Ankommen eigentlich bedeuten, vor allem wenn ein Krieg in dem Land ausbricht, das man verlassen hat.
Wie ist es zu „Zorn und Stille“gekommen? Mich hat die Geschichte beschäftigt, weil ich eine biografische Verbindung zu der Zeitgeschichte habe, dadurch dass ich selbst als serbisches Kind oder damals noch jugoslawisches Kind, als Gastarbeiterkind, aufgewachsen bin in Österreich und dann dieses Kriegsgeschehen kam. Ich hatte den Eindruck, dass das nie zur Sprache gekommen ist in der Literatur. Ich wollte nicht direkt über ein Kriegsgeschehen schreiben, ich wollte darüber schreiben, was das mit Menschen macht, wenn die gar nicht vor Ort sind. Wenn Dinge zerfallen. Wenn Selbstverständlichkeiten auseinanderbrechen. Und wenn man ohnehin in einer relativ prekären Gesamtlebenssituation ist, in der man immer so ein bisschen strauchelt. Das ist ja das klassische Gastarbeiter-Sujet: Man darf da sein als Mensch, man ist aber auch geduldet in gewisser Weise. Es ist ein Nicht-ankommen-Dürfen, weil man im Kopf noch nicht wirklich ankommen darf.
Der Roman ist in drei Teile aufgeteilt, zunächst wird aus Billys Perspektive erzählt, dann folgen ihre Mutter und ihr Vater. Stand von Anfang fest, dass Sie von verschiedenen Generationen erzählen?
Ja, das wollte ich auf jeden Fall machen. Ich habe es mir einfacher vorgestellt am Anfang und habe dann sehr lange gebraucht, um alle Stimmen zu finden. Ich habe mich da auch auf die Suche begeben und meine eigenen Vorstellungen und Klischees überprüfen müssen. Ich habe zwar eine biografische Verbindung zu der Geschichte, aber es sind ja Figuren in meinem Roman.
Tatsächlich gibt es ja biografische Parallelen: Auch Ihre Eltern sind aus Serbien nach Österreich gegangen, Sie sind aber in Wien geboren, nicht in Serbien. Spielt dieser biografische Fakt eine Rolle?
Das ist schwer zu sagen. Ich finde das immer ganz lustig, den Aspekt der Geburt. Wenn ich jetzt mit wenigen Jahren nach Österreich gekommen wäre, sagen wir mit fünf oder sechs, wie viel wüsste ich dann tatsächlich noch von den Jahren vorher? Ich würde aber ganz anders angesehen werden als Mensch oder als Schreibende, dann hätte ich automatisch diesen Background. Das wird einem so zugeschrieben. Manchmal ist das ein bisschen absurd, weil der Background ist ja eigentlich das, wo man aufwächst. Wenn man zum Beispiel in einer Familie aufwächst, die einen in irgendeiner Form anderen Background hat, dann bist du draußen zum Beispiel in einer österreichischen oder deutschen Welt, zu Hause aber in einer Welt, wo ganz andere Regeln funktionieren, wo eine ganz andere Mentalität da ist, eine andere Art, miteinander zu reden – wie zwei Welten ineinander. Und ich glaube, dass der Aspekt der Geburt nicht so relevant ist, wenn man nicht in einem Alter dort war, wo man sagen kann, da habe ich wirklich schon ganz viel mitnehmen können.
In Ihrer Autorinnenbiografie steht „österreichische Autorin serbischer Herkunft“– warum ist dieser Zusatz wichtig?
Das habe ich tatsächlich selbst vor zwei Jahren hineingeschrieben, weil ich das Gefühl hatte, dass ich falsch gelesen werde, wenn man mich als Österreicherin sieht. Mir geht es eher darum, dass in dieser kurzen Biografie ein bisschen was davon steckt, wo ich als Mensch herkomme. Da geht es mir weniger um diese geografische Herkunft, aber ich muss irgendwie benennen, ich bin jetzt nicht nur aus diesem schönen, sauberen, ordentlichen Österreich, sondern da gibt es noch was anderes, was mich als Mensch gemacht hat. Und das ist für mich, dass ich nicht unter diesen Selbstverständlichkeiten unbedingt aufgewachsen bin, wo alles so superprivilegiert ist, wo alles superselbstverständlich ist und alles so klar. Ist das verständlich?
Ja, zumal ja mit dieser geografischen Angabe oft auch eine gewisse Klassenherkunft gemeint ist.
Genau. Und das wollte ich als Marke setzen. Als ich begonnen habe zu schreiben, wollte ich gar nichts über mich sagen. Da habe ich mir gedacht, es steht ja
alles in den Texten. Aber langsam wird mir klar, dass manche Texte gar nicht angeguckt werden, weil Menschen auf die Biografie gucken und das Gefühl haben, ah, das kenne ich schon, davon gibt es so ganz viele. Da ist mir wichtig, meine Themen in der Biografie zu setzen und zu sagen: Okay, ich bin nicht aus diesem Selbstverständlichkeitskontext. Oder: Ich bin zwar auf eine Schreibschule gegangen, aber da war ich schon über 30. Und ich bin zwar in Österreich aufgewachsen, aber nie wie eine privilegierte Österreicherin.
Mit dieser Angabe in der Biografie wird oft auch eine Kompetenz verbunden – wird Ihnen eine größere Kompetenz zugesprochen, über Jugoslawien zu schreiben?
Mir geht es bei diesen Markern in der Biografie vor allem darum: Wovon gehe ich aus? Und von dem aus kann ich über alles schreiben. Ich würde es jetzt niemandem absprechen, über Ex-Jugoslawien zu schreiben, wenn der Mensch sich damit auseinandersetzt. Mir blieb ja auch nichts anderes übrig. Selbst wenn ich dort aufgewachsen wäre, muss man sich ja damit auseinandersetzen, um darüber schreiben zu können. Egal, worüber man schreibt. Sonst geht sich das einfach nicht aus.
Aber zugleich geht damit auch eine Begrenzung einher, oder?
Begrenzungen werden immer gemacht, man wird in Schubladen gesteckt. Am Anfang meines Schreibens hatte ich irrsinnig Sorgen, dass ich gleich in die Migrationsliteratur-Schublade gesteckt werde, weil ich beim Exil-Literaturpreis den zweiten Platz gemacht habe. Und ich war irgendwie unzufrieden damit, wie das dann rezipiert wurde, und dachte: Ja, aber ich bin ja mehr als das. Dann, im Nachhinein, viele Jahre später habe ich mir gedacht: Ja, ich bin mehr als das, aber ich bin auch das. Deswegen möchte ich es nicht weglassen. Als Schreibende bleibt uns ja nichts anderes übrig, als sich da immer wieder anders zu definieren und auch zur Sprache zu bringen, dass man eben begrenzt wird oder dass es da Vorstellungen gibt, die im besten Fall dann eben nicht erfüllt werden. Es gibt auch ganz viele Themen, die mich gerade interessieren. Das heißt aber zum Beispiel auch nicht, dass ich nie wieder über das Thema schreibe. Vielleicht kommt das dann auch wieder.
Momentan ist in der Literatur schon auffällig, dass die Stimmen von Autor:innen, die eine biografische Verbindung zu den ehemaligen Jugoslawien-Staaten haben, viel Beachtung finden. Woher kommt das?
Ich glaube, dass nun die Kindergenerationen mehr oder weniger beginnen, das aufzuarbeiten. Das ist ja oft so eine Welle, bei der man irgendwie spürt, das muss jetzt gemacht werden. Es ist auch ein Thema, das viel mit der politischen Gesamtsituation in Europa zu tun hat. Mit Populismus, mit Ängsten, ganz abgesehen von der Pandemie, eher Ängste wie: In welche Richtung können sich die Staaten noch entwickeln, dass es irgendwie mehr Hoffnung gibt auf eine Veränderung? Oder gehen wir immer weiter nach rechts? Wird das immer populistischer? Wird das immer nationalistischer? Es ist so eine politische Stimmung, die viele darüber nachdenken lässt, wo sie herkommen, was das für sie bedeutet.
Wird das überbetont, die Heimat, die man hat, die Nation, der man angehört?
Absolut. Für mich ist das gar nicht wichtig, sondern es geht eher darum, sich damit zu beschäftigen, was man aus den eigenen Erfahrungen kennt oder dem Horizont des Aufwachsens, um was Größeres zu verstehen. Nicht um über mein Heimatland zu schreiben. Mir würde niemand einfallen, dem es darum geht. Sondern es sind Fragen, die in diesem Zusammenhang gestellt werden, um etwas Größeres zu verstehen. Das ist ja oft in der Literatur: Man schreibt zum Beispiel über eine Beziehung, aber es geht um viel größere, werthaltigere Themen.
Was ist Heimat für Sie?
Für mich ist das etwas Flexibles, weil ich Heimat immer dort sehe, wo einfach Menschen sind, die für mich wichtig sind. Anders kann ich es nicht sagen. Natürlich hat es mich irgendwie beeinflusst, wo ich aufgewachsen bin. Ich bin sieben oder acht Jahre in Deutschland und ich glaube, ich hatte nie Heimweh. Wenn, dann habe ich mir gedacht, ich vermiss eine gewisse Person, eine gewisse Freundin, einen Freund, aber ein Land würde ich jetzt nicht vermissen. Vielleicht ein Kaffeehaus. Das gibt es hier nicht in der Form (lacht).
Insgesamt spielt ja die Identität eine immer größere Rolle, auch in der Literatur. Warum ist es das wichtig?
Solange einfach so viele Menschen marginalisiert werden und nicht zur Sprache kommen, solange wir auch im Literaturbetrieb diese Strukturen haben, die sehr starr sind und wo sehr viele Menschen nach wie vor keinen Platz haben oder wenn, dann nur mit so einem Exot:innen-Bonus – das sage ich jetzt bewusst so schiach, weil das oft wirklich so daherkommt –, finde ich, muss man über Identität sprechen und die auch zur Sprache bringen. Es sollte selbstverständlich sein, dass verschiedenste Menschen einfach Platz haben, um sich auszudrücken, um zu schreiben, und dass diese Plätze nicht besetzt sind. Dass man nicht immer so schnell sagt, ah, das Thema hatten wir jetzt schon. Sondern dass man sieht, das ist ein anderer Mensch, der mir diese Geschichte erzählt. Aber das ist noch ein weiter Weg dahin, dass die Welt einfach diverser wird. Und manchmal muss man das auch wirklich herausstellen und darüber sprechen, dass es einfach noch nicht so ist, dass uns viele Narrative fehlen. Und dass uns viele Stimmen einfach fehlen.