Pflanzen fordern uns heraus
Stefano Mancusos Buch über Pflanzenrechte
Wer bisher dachte, dass die Biologie eine unpolitische Wissenschaft ist, wird nach der Lektüre von Stefano Mancusos neuem Buch umdenken müssen.
der Biologe Stefano Mancuso liebt Pflanzen nicht nur, sondern versteht sie auch. Mancuso, der als Professor in Florenz lehrt, ist ein international gefragter Experte auf dem Gebiet der Pflanzenneurobiologie, wobei sein Engagement weit über den Tellerrand der wissenschaftlichen Fachwelt hinaus reicht. Er hat mehrere populärwissenschaftliche Bücher geschrieben, in denen er dem interessierten Laienpublikum etwa erklärt, wie Pflanzen ihre Umwelt wahrnehmen und sich an sie anpassen („Die Intelligenz der Pflanzen“, mit Alessandra Viola, Kunstmann 2015) oder wie Pflanzen, obwohl sie als Individuen fest am Standort verwurzelt sind, es dennoch schaffen, als Arten über weite Strecken zu wandern („Die unglaubliche Reise der Pflanzen“, Klett-Cotta 2020). Zum großen Glück der Pflanzen gehört Mancuso zur Subspezies jener Biologen, die gut schreiben können. Und da er bei aller Pflanzenliebe und aller engagierten Eloquenz eben auch Wissenschaftler ist, sind seine Bücher gleichzeitig angenehm frei von jeder Gefühligkeit.
In seinem neuesten Buch ist der Biologe allerdings einen entscheidenden Schritt über den rein sachlichen Diskurs hinausgegangen. In „Die Pflanzen und ihre Rechte“spricht nicht mehr nur der menschliche Autor. Er schreibt hier passagenweise, zumindest in den Kapitelüberschriften, nicht als er selbst, sondern im Namen der Pflanzen. Das Gedankenexeperiment dahinter ließe sich etwa so formulieren: „Wenn die Pflanzen der Welt eine Verfassung geben könnten, wie würde sie aussehen?“In diesem Sinne formuliert Mancuso acht Artikel einer Charta der „Nation der Pflanzen“, die er den acht Kapiteln seines Buches voranstellt. Der erste Artikel lautet: „Die Erde ist die gemeinsame Heimat allen Lebens. Alle Macht gehört allen Lebewesen.“Das ist eine radikale politische Forderung, so wie fast alles in der Pflanzencharta. Kapitelweise erläutert Mancuso den sachlichen Hintergrund jedes Verfassungsartikels. Dabei geht es sehr oft gar nicht um die Pflanzen selbst, sondern um die Art und Weise, wie alles mit allem zusammenhängt, und darum, wie wir Menschen die Pflanzen und uns und alles andere auf der Erde wahrnehmen. Überhaupt, die Erde. „Wo sind sie alle?“zitiert Mancuso den Kernphysiker Enrico Fermi, der einst mit dieser berühmt gewordenen Frage deutlich machte, wie wenig wahrscheinlich es ist, dass wir anderswo im Weltall intelligentes Leben oder einen Ort entdecken, an dem unsere Spezies weiterleben könnte, nachdem sie die Erde unbewohnbar gemacht hat. Dass unser Planet bewohnbar ist, verdanken wir, wie Mancuso nicht müde wird zu betonen, allein den Pflanzen, die über die wundersame Fähigkeit zur Photosynthese verfügen und damit den für uns unverzichtbaren Sauerstoff herstellen. Denn nicht wir Menschen, oder, weiter gefasst, wir Säugetiere, sind die am besten an das Leben auf der Erde angepassten Organismen, sondern rangieren in dieser Hinsicht sogar ziemlich weit hinten. Am anpassungsfähigsten von allen komplexeren Lebewesen – und damit nach Darwin die „fittesten“– sind die Pflanzen.
Auch andere Artikel der Pflanzencharta sind von großer politischer Sprengkraft. Der dritte lautet: „Die Nation der Pflanzen erkennt die tierischen Hierarchien mit ihren Kommandozentren und konzentrierten Funktionen nicht an, sondern unterstützt dezentrale Pflanzendemokratien mit verteilten Funktionen.“Hier nimmt Mancuso einen anthropologischen Blickwinkel ein und beschreibt, wie wir Menschen fatal dazu tendieren, unsere sozialen und politischen Strukturen genauso hierarchisch zu organisieren, wie unser Körper gebaut ist, was allzu oft zerstörerische Folgen hat. Hannah Arendt (die sich in ihrem Bericht über den Eichmann-Prozess mit ebensolchen Strukturen beschäftigte) zieht der Autor als Zeugin heran, außerdem den russischen Anarchisten Pjotr Kropotkin, der schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über ein unhierarchisches, unterstützendes Miteinander von Menschen, Tieren und Pflanzen nachdachte. – Es ist ein gedanklicher Komplex von prinzipiell enormen Ausmaßen, den Mancuso in seinem eher schmalen, aber ungemein anregenden Buch anreißt. Für die Zukunft wäre natürlich dringend zu fordern, dass es beim Gedanklichen nicht bleibt. Schade eigentlich, dass Pflanzen nicht demonstrieren gehen können.