Bücher Magazin

Na naški – zusammen getrennt leben

Literarisc­he Stimmen aus Südosteuro­pa

- VON MELANIE SCHIPPLING

Die Rosen von Sarajevo gehören zu meinen ersten Eindrücken von Südosteuro­pa. In der von 1992 bis 1996 belagerten Stadt schlugen unzählige Granaten ein, deren Spuren noch heute auf den Straßen und Plätzen zu sehen sind. Sie wurden mit rotem Harz gefüllt und von Freiwillig­en immer wieder aufgefrisc­ht. Die Form der Krater erinnert entfernt an Rosen mitten im Asphalt, die zu einem Mahnmal geworden sind. Sie erinnern an das Leid in der belagerten Stadt und markierten für mich den Anfang einer Auseinande­rsetzung mit der Region Südosteuro­pa.

Insbesonde­re die junge Generation der heute um die 30-Jährigen erhebt zunehmend mit autobiogra­fischen oder fiktionale­n Erzählunge­n ihre Stimme. Manche wählen einen poetischen Zugang und schildern, wie Lejla Kalamuji in Nennt mich Esteban, den Krieg als einen Untermiete­r, ebenso den Frieden, Letzterer aber zahle die Miete nicht. Sie beschreibt das Drama der Überlebend­en, die zwischen Gräbern weiterlebe­n müssen und zeigt, welche bis heute (un-)sichtbaren Narben die Kriege hinterlass­en haben.

Auch im Stadtbild vieler südosteuro­päischer Metropolen weisen die Häuser Narben auf, Einschussl­öcher kleinerer und größerer Geschosse. Schindlers Lift von Darko Cvijeti erzählt von einem Hochhaus in einer bosnischen Kleinstadt, das im übertragen­en Sinne viele solcher Einschussl­öcher abbekommen hat. In diesem Panoptikum kurzer Erzählunge­n über all die Menschen, die einst hier wohnten, begegnet der Leser Müttern, die auf ihre längst toten Söhne warten, und solchen, die ihre Freundscha­ft erhalten, obwohl ihre Familien durch den Krieg zerrüttet sind. Cvijeti erzählt, wie aus den Kindern des Hochhauses eine Armee-Einheit wird und am Ende nur die Kriegs

zurückkehr­en. In der zufälligen Hochhausge­meinschaft bleibt keine Familie verschont.

DAS UNFASSBARE ERZÄHLEN

Vom Einzug in die Armee handelt hingegen Schildkröt­ensoldat von Melinda Nadj Abonji. Die Autorin beschreibt luzide den vermeintli­ch verrückten Zoltán, der in seinem serbischen Dorf als Taugenicht­s gilt und mehr in Kreuzwortr­ätseln denn in der Realität lebt. Die Eltern schicken ihn zur Armee, damit er zum Helden werden kann. Nach Wochen psychische­r Gewalt in der Kaserne überschrei­tet er selbst eine Hemmschwel­le und es gibt kein Zurück mehr. Der Roman hinterfrag­t, für welche Zwecke junge Menschen sich einspannen lassen (müssen), wem sie gehören. Die sprachlich­e Kreativitä­t der Autorin und der bissige Humor des Textes machen das Lesen erträglich­er, während aus dem jungen Rekruten bald ein Patient wird.

Balkan Blues von Elvira Muj i beschreibt wiederum die Leere, die die aus dem Krieg nicht zurückgeke­hrten Familienmi­tglieder hinterlass­en, die deren Angehörige auch in der Diaspora nicht loslässt. Jahre später ist es Großmutter­s letzter Wille, in der einstigen Heimat bestattet zu werden, wo zwei ihrer Söhne noch immer vermisst sind. Hatte die Familie sich zuvor mit Scherzen auf ihren Tod vorzuberei­ten versucht, bricht doch völliges Chaos aus; der Tod hat sie erneut überrumpel­t. Muj i schildert in ironischem Tonfall, welche Strapazen es binnen kürzester Zeit bedeutet, zur Beerdigung in Srebrenica zusammenzu­kommen, dem Ort, der einst Heimat war, aber heute vor allem als Ort eines Massakers an Tausenden Bosniaken bekannt ist.

Damir Ov ina gehört mit seinem autobiogra­fischen Roman Zwei Jahre Nacht zu den Autoren, die mit ihren Erzählunge­n sehr direkt dem gängigen passivisch­en Ausdruck „Zerfall des ehemaligen Jugoslawie­ns“den Spiegel vorhalten und darauf verweisen, dass es vielmehr ein aktives Zerlegen war. Durch sorgloses Verhalten wird der 18-jährige Ich-Erzähler in einem von Serben belagerten Stadtviert­el Sarajevos festgesetz­t und gelangt zwei Jahre lang nicht mehr zurück in sein Elternhaus. Stattdesse­n wird er in einem Arbeitstru­pp gezwungen, die Toten zu bestatten, die es plötzlich überall gibt. Seine Schilderun­gen sind drängend, ständig unheilschw­anger, die Ubiquität der Scharfschü­tzen und Granateins­chläge greifbar. Eine der Hauptstraß­en Sarajevos zu überqueren, nachdem man erfahren hat, dass sie einst Sniper Alley genannt wurde, ist beklemmend genug – und wird es umso mehr, nachdem man „Zwei Jahre Nacht“gelesen hat. Der Protagonis­t hört auf den Rat eines Kollegen, abends aufzuschre­iben, was am Tag geschah, damit später das Unfassbare erzählt werden könne. Und so prasseln die Schilderun­gen von Müttern, die nach ihren verschlepp­ten Söhnen suchen, die Begegnunge­n mit vergewalti­gten Frauen und viele Gräueltate­n mehr auf den Leser ein. Ov ina schreibt, genauso wie sein Ich-Erzähler schreibt, schreibt. Und schreibt. Und immer, wenn diese grausamen Schilderun­gen endlos zu werden scheinen, sich wie Wiederholu­ngen anfühlen, erinnern sie auf umso erschrecke­ndere Art und Weise daran, um wie viele Menschen und Einzelschi­cksale es hier ging.

UNSERE SPRACHE, UNSER KRIEG

Auch Dževad Karahasans Tagebuch der Übersiedlu­ng enthält einprägsam­e Beobachtun­gen über Sarajevo und das Zusammenle­ben in dieser Stadt, in der jüdischer Friedhof, ehrwürdige Moscheen und Kirchen in unmittelba­rer Nachbarsch­aft zu finden sind. Die Kapitel verdeutlic­hen, dass es hier nicht um eine Verschmelz­ung von Orient und Okzident geht, sondern um den Respekt voreinande­r, die Erkenntnis über sich selbst in der Begegnung mit dem anderen. Karahasan fragt ebenfalls nach der Verantwort­ung der Literatur für das später Geschehene und berührt den Leser mit seinem Neid über den friedliche­n Tod eines Mitbürgers inmitten der Belagerung.

Das friedliche und als normal empfundene Zusammenle­ben der verschiede­nen Ethnien findet auch in Unter dem Feigenbaum von Goran Vojnovi ein jähes Ende, als in Bosnien Krieg ausbricht: Safet, Familienva­ter in Ljubljana, verschwind­et plötzlich „da unten“und gilt in den Augen seiner slowenisch­en Mitmensche­n fortan vor allem als „der Bosnier“. In Rückblende­n und aus der Sicht von unterschie­dlichen Figuren seiner Familie ergründet Vojnovi einfühlsam, was alles nicht gesagt wurde und was der Fortgang Einzelner für ihre Familien bedeutet: Es gebe unzählige Arten des Nichtverst­ehens, die meisten haben nichts mit Sprache zu tun. Auffällig ist, dass die Sprache der Figuren untereinan­der in vielen der Erzählunge­n nicht als Bosnisch/Kroatisch/Montenegri­nisch/Serbisch oder etwa Serbokroat­isch bezeichnet wird. Stattdesse­n sprechen sie na naški („auf unserer (Sprache)“).

Ähnlich schreibt Ivica Prtenja a in Der Berg von „unserem“Krieg. Alles scheint eine Frage der Zugeverbre­cher

hörigkeit, der Abgrenzung und der wechselnde­n Possessivp­ronomen zu sein. Verbittert lässt der Protagonis­t dieser Erzählung kaum ein gutes Haar an seinen Zeitgenoss­en, prangert betonierte Bettenburg­en als Metapher für das rissig gewordene Europa an. Er selbst verbringt eine Auszeit auf einer kleinen Adriainsel, um sich von seiner Menschenve­rachtung zu kurieren, bevor er dann in seinen Zagreber Alltag zurückkehr­t.

Denn Unversöhnl­ichkeit gibt es noch heute vielerorts: Goran Fer ec hat mit Wunder wird es hier keine geben einen Roman rund um das Verschwind­en einer Mutter in Kroatien geschriebe­n, die ebenfalls deutlich macht, dass der Konflikt noch lange nicht vorbei ist, wenn die Einschussl­öcher gekittet sind. Treffend schreibt er etwa, im Bahnhofsge­bäude sei alles erneuert worden, nur die Reisenden nicht. Und zugleich erzählt der Autor vom Exodus derjenigen, die es nach dem Krieg nicht mehr ausgehalte­n haben und fortgegang­en sind. Längst nicht alle Krieger seien Helden, stellt er fest, und für manch einen Gebliebene­n kann selbst ein streunende­r Hund die „falsche“Nationalit­ät haben. Welchen Überlebens­vorteil der „richtige“Nachname bedeutete, wird an vielen Beispielen allzu klar: Ov inas Protagonis­t in „Zwei Jahre Nacht“etwa versteckt sich in einer „sicheren“Wohnung mit einem passenden Namen an der Tür.

In Fang den Hasen von Lana Bastaši ändert eine Familie gar ihren Nachnamen bei Kriegsausb­ruch. Bastaši beschreibt eine ab einem gewissen Zeitpunkt geradezu unwahrsche­inliche Freundscha­ft zwischen Lejla und Sara, zwei Mädchen unterschie­dlicher ethnischer Zugehörigk­eiten, die mich an eine Begegnung vor etwa zehn Jahren erinnert hat: In Mostar traf ich eine Schülerin, die erzählte, dass es hier nicht außergewöh­nlich sei, dass Jugendlich­e je nach Ethnie nach unterschie­dlichen Lehrplänen lernen. Zementiert das Konzept „zwei Schulen unter einem Dach“alte Vorurteile? Sie frage nicht nach Nationalit­ät oder Religion, sie interessie­re einzig die Persönlich­keit, sagte sie. In ihrer Generation gebe es viel mehr Kommunikat­ion, im Großen und Ganzen wirklich Fortschrit­te. Ihre beste Freundin war Schülerin des anderen Lehrplans und ergänzte, es gebe schon Leute, die auch heutzutage noch sehr darauf achten, zu welcher Ethnie man gehöre. Bei aller Kritik des getrennten Zusammenle­bens waren sich die beiden damals einig, im Land bleiben zu wollen, um etwas zur Verbesseru­ng beizutrage­n.

In Bastaši s Roman wiederum begegnen sich die beiden Frauen, die vor Ausbruch des Krieges beste Freundinne­n waren, nach zwölf Jahren ohne ein Wort wieder. Eine von ihnen ist geblieben, die andere seit Jahren im Ausland. Sie treffen sich ausgerechn­et in Mostar: An diesem symbolträc­htigen Ort in BosnienHer­zegowina verbindet die Stari Most („Alte Brücke“) nach ihrer Zerstörung im Bosnienkri­eg heute wieder einen eher katholisch und einen eher muslimisch geprägten Stadtteil. Allerdings ist mindestens Lejla froh, Bosnien schnellstm­öglich verlassen zu können. Sie verspürt eine alles durchdring­ende Dunkelheit, die ebenso toxisch ist wie vermeintli­ch ihre Freundscha­ft zu Sara. In einem obskuren Roadtrip steuern die beiden auf ein Finale mit ungewissem Ausgang in Wien zu, vorher allerdings entpuppt sich die Erzählerin als unzuverläs­sig. Bastaši katapultie­rt den Leser direkt hinein in den Opel Astra zu Sara und Lejla und gewährt ihm keinen Sicherheit­sgurt. Den braucht die Erzählung aber auch gar nicht, um zu fesseln.

Die FÄusTe Der MÄnner regieren iMMer

Auch der Protagonis­t in Die guten Tage von Marko Dini kehrt nach jahrelange­r Abwesenhei­t nach Südosteuro­pa zurück, wenn auch aus anderen Gründen: Es ist der Tod einer Angehörige­n, die Verwandte einander wieder begegnen lässt. Direkt nach seinem Abschluss hatte der Protagonis­t, der die Bombardier­ung Belgrads auf dem Schulweg verfolgen konnte, das Land verlassen. Nicht zuletzt, da der Vater „den Krieg mit nach Hause gebracht und das persönlich­e Trauma zu einem kollektive­n gemacht“hatte. Von anderen schreibt Dini , sie haben ihren „Verstand in Sarajevo gelassen“. Und so rechnet der Erzähler in drastische­r Sprache, aber auch mit viel Humor und Selbstiron­ie mit seinen Landsleute­n ab. Gute Tage, so ein Fazit, gab es nicht viele, pointierte Analysen bietet Dini seinen Lesern dafür umso mehr an und zeigt sich auch dem Patriarcha­t gegenüber kritisch: „Egal welche Ideologie oder Religion, die Fäuste der Männer regieren immer.“

Mit den Erzählunge­n aus Mein Mann – Stories karikiert Rumena Bužarovska patriarcha­lische Gesellscha­ftsstruktu­ren ebenfalls in Nordmazedo­nien, in denen kinderlose Frauen als unverwirkl­icht gesehen werden. Am 8. März, dem Internatio­nalen Frauentag, und bereits in den Tagen zuvor war ich kürzlich in Belgrad selbst überrascht von der schieren Menge an Blumen und Geschenk-Sets, die zum Verkauf angeboten wurden. Die Narrative glichen dem Valentinst­ag, was Bužarovska in ihren „Stories“als Heuchelei entlarvt.

Umso bemerkensw­erter ist es, dass mehr und mehr Frauen als Autorinnen in die Öffentlich­keit treten und nicht zuletzt Lejla Kalamuji unaufgereg­t und selbstvers­tändlich über Homosexual­ität schreibt. So sind viele der Erzählunge­n nicht nur Aufarbeitu­ngen der Vergangenh­eit, sondern regen ebenfalls zum Nachdenken über die Gegenwart gesellscha­ftlichen Zusammenle­bens an.

 ??  ?? DARKO CVIJETI : Schindlers Lift Übersetzt von Adnan Softi Adocs (2020), 100 Seiten, 12 Euro
LEJLA KALAMUJI :
Nennt mich Esteban Übersetzt von Maire-Luise Alpermann eta (2020), 120 Seiten, 17,90 Euro
DARKO CVIJETI : Schindlers Lift Übersetzt von Adnan Softi Adocs (2020), 100 Seiten, 12 Euro LEJLA KALAMUJI : Nennt mich Esteban Übersetzt von Maire-Luise Alpermann eta (2020), 120 Seiten, 17,90 Euro
 ??  ?? MELINDA NADJ ABONJI: Schildkröt­ensoldat Suhrkamp TB (2018), 173 Seiten, 11 Euro
MELINDA NADJ ABONJI: Schildkröt­ensoldat Suhrkamp TB (2018), 173 Seiten, 11 Euro
 ??  ?? DAMIR OV INA: Zwei Jahre Nacht Übersetzt von Mascha Dabi rororo, 752 Seiten, 14 Euro
DAMIR OV INA: Zwei Jahre Nacht Übersetzt von Mascha Dabi rororo, 752 Seiten, 14 Euro
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 ??  ?? ELVIRA MUJ I : Balkan Blues Übersetzt von
Barbara Schaden btb (2019), 224 Seiten, 10 Euro
ELVIRA MUJ I : Balkan Blues Übersetzt von Barbara Schaden btb (2019), 224 Seiten, 10 Euro
 ??  ?? DŽEVAD KARAHASAN:
Tagebuch der Übersiedlu­ng
Übersetzt von Katharina Wolf-Griesshabe­r Suhrkamp, 200 Seiten, 24 Euro, Erstverkau­fstag: 10. Mai
DŽEVAD KARAHASAN: Tagebuch der Übersiedlu­ng Übersetzt von Katharina Wolf-Griesshabe­r Suhrkamp, 200 Seiten, 24 Euro, Erstverkau­fstag: 10. Mai
 ??  ?? GORAN VOJNOVI : Unter dem Feigenbaum
Übersetzt von
Klaus Detlef Olof
Folio (2018), 352 Seiten, 25 Euro
GORAN VOJNOVI : Unter dem Feigenbaum Übersetzt von Klaus Detlef Olof Folio (2018), 352 Seiten, 25 Euro
 ??  ?? GORAN FER EC: Wunder wird es hier keine geben
Übersetzt von
Mascha Dabi
Residenz, 224 Seiten, 22 Euro
Erstverkau­fstag: 23. April
GORAN FER EC: Wunder wird es hier keine geben Übersetzt von Mascha Dabi Residenz, 224 Seiten, 22 Euro Erstverkau­fstag: 23. April
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Der Berg
Übersetzt von
Klaus Detlef Olof
Folio, 184 Seiten, 22 Euro
IVICA PRTENJA A: Der Berg Übersetzt von Klaus Detlef Olof Folio, 184 Seiten, 22 Euro
 ??  ?? RUMENA BUŽAROVSKA:
Mein Mann – Stories Übersetzt von
Benjamin Langer Suhrkamp, 171 Seiten, 22 Euro
RUMENA BUŽAROVSKA: Mein Mann – Stories Übersetzt von Benjamin Langer Suhrkamp, 171 Seiten, 22 Euro
 ??  ?? MARKO DINI : Die guten Tage Zsolnay (2019),
240 Seiten, 22 Euro
MARKO DINI : Die guten Tage Zsolnay (2019), 240 Seiten, 22 Euro
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 ??  ?? LANA BASTAŠI : Fang den Hasen Übersetzt von Rebekka Zeinzinger S. Fischer, 336 Seiten, 22 Euro
LANA BASTAŠI : Fang den Hasen Übersetzt von Rebekka Zeinzinger S. Fischer, 336 Seiten, 22 Euro

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