Kannst du beweisen, wer du bist?
Mithu Sanyals Romandebüt
Es tobt ein übler Shitstorm. Währenddessen bilden eine Professorin, ihre Studentin, eine indische Göttin und wechselnde andere Personen eine temporäre Zweck-WG. Nivedita ist im schicken Appartement von Saraswati untergeschlüpft, die an der Düsseldorfer Uni Postcolonial Studies unterrichtet. Der Grund dafür ist die von ihr einst verehrte Professorin selbst. Vor Kurzem kam etwas Ungeheuerliches heraus: Saraswati ist weiß! Dabei war sie es gewesen, die Nivedita, Tochter eines indischen Vaters und einer polnischen Mutter, dabei geholfen hatte, das Selbstbewusstsein zu finden, nach dem sie zuvor lange gesucht hatte. Inspiriert von Saraswatis Büchern und Seminaren wurde das einst so unsichere Mädchen, das sich selbst nirgendwo dazugehörig empfunden hatte, zur gefragten Bloggerin „Identitti“, die öffentlich Zwiegespräche mit ihrer (meist) unsichtbaren Begleiterin, der Göttin Kali, führt. Über Identitätspolitik und Brüste, wie sie trocken erklärt, als sie eine Radioredakteurin dazu befragt.
Jetzt ist Nivedita sehr wütend auf Saraswati, die nicht indisch, sondern als Sarah Vera Thielmann in Karlsruhe geboren wurde. Doch statt ins Internet, trägt sie die Wut direkt zu ihrer Professorin, setzt sich mit ihr auseinander. Sie stellt viele Fragen nach den Gründen für ihr Handeln, bekommt Antworten, die wieder neue Fragen hervorbringen. Dazwischen ist sie verwirrt. Und wir Leser:innen sind es mit ihr. Das ist das vielleicht größte Verdienst des Debütromans von Mithu Sanyal. Denn aus dieser Verwirrung heraus entspringt der Wunsch, noch mehr zu verstehen und die Möglichkeit tut sich auf, die Dinge ganz neu und anders zu betrachten.
Mithu Sanyal ist Kulturwissenschaftlerin, sie veröffentlichte bereits die viel beachteten Sachbücher „Vulva – Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“und „Vergewaltigung – Aspekte eines Verbrechens“. In diesem Zusammenhang wurde sie bereits selbst zum Opfer eines Shitstorms. Mit Saraswati hat die Autorin eine geheimnisvolle, sehr belesene Figur geschaffen, an der sich Sanyals eigener breiter Wissensschatz zeigt. Das Buch ist voller Querverweise auf Kulturgeschichte und Literatur, Zitate, Fachbegriffe. Es lohnt sich, jedem einzelnen hinterherzuforschen. Dass man auf diese Weise mit der Lektüre nur langsam vorankommt, macht nichts. Es ist hier ähnlich wie mit einer besonders reichhaltigen Nahrung. Lieber weniger Bissen nehmen und zwischendurch verdauen.
Im Verlauf der Lektüre nimmt der Plot zudem einige spannende, witzige und dramatische Wendungen. Das Buch macht klüger, unterhält dabei aber bestens, was daran liegt, dass Mithu Sanyal eine wirklich begabte Erzählerin mit einem wunderbaren Humor ist. „Ich wollte schon immer Romane schreiben“, so die 1971 geborene Autorin, die wie ihre Figuren in Düsseldorf lebt. So kommt es, dass Motive und Fragmente des Romans 25 Jahre zurückliegen. Um ein Buch wie „Identitti“hier in Deutschland zu veröffentlichen, musste erst die richtige Zeit kommen, glaubt Sanyal. Sehr inspiriert wurde sie von der postmigrantischen Literatur aus Großbritannien. Besonders wichtig war dabei Hanif Kureishis Roman „Der Buddha aus der Vorstadt“aus dem Jahr 1990. Mit einem mixed-race Ich-Erzähler. „Als ich seinen Roman las, ging es mir ein wenig wie Nivedita, als sie das erste Mal zu ihrer wegweisenden Professorin Saraswati geht. Sie hat das Gefühl, dass sich tektonische Platten verschieben und nichts ist mehr so, wie es vorher war. Das hat Kureishis Roman in mir ausgelöst und die Tatsache, dass dort eine Stimme wie meine war, die selbstverständlich gesagt hat: Ich erzähle dir jetzt meine Geschichte und sie ist relevant.“Zunächst dachte sie, dass sie einen Roman über Rassismus schreiben wollte, mit Humor, so wie es von ihr bewunderte Schriftsteller:innen in Großbritannien, die oft aus der Comedy kommen, auch taten. „Weil man damit Menschen mit ins Boot holt, man lacht gemeinsam über dieses absurde Phänomen
Rassismus. Nicht über die Opfer! Sondern über Rassismus und damit hat er weniger Macht über einen.“Dann wurde ihr klar, „es ist ein Roman über being-mixed-race“.
Um Rassismus und (Post-)Kolonialismus geht es in „Identitti“natürlich auch, schließlich sind es Erfahrungen damit, die Saraswatis Fall für viele so unerträglich, so schmerzhaft machen. Erzählerisch wird das auch über Nebenfiguren wie Oluchi, Niweditas schwarze Freundin und Mitstudentin, deutlich gemacht, die sich einem organisierten Protest gegen Saraswati anschließt. Aber auch über den Shitstorm gegen Saraswati, die weiter dafür einsteht, Saraswati zu sein, das sein zu dürfen. Während es ihr die meisten Menschen absprechen.
Es macht viel Spaß, den Shitstorm zu verfolgen. Sanyal bietet mit ihm Einblick in ein paralleles Internet, in dem vieles unserem gleicht: Unter erfundenen stehen auch bekannte Namen, etwa @Ijoma Mangold, @Fatma Aydemir oder @habibitus (Hengameh Yaghoobifarah). Viele Kommentare wurden von Freunden und Bekannten Sanyals fürs Buch gespendet.
Einen ganz ähnlichen Shitstorm gab es auch in der wirklichen Welt, zu einem Fall, der dem um Saraswati sehr ähnelt: 2015 kam in den USA heraus, dass die Bürgerrechtsaktivistin Rachel Dolezal vorgetäuscht hatte, eine Schwarze zu sein. Mithu Sanyal bezeichnet Saraswatis Geschichte „sozusagen als ZwillingsGeschichte“zu der Rachel Dolezals. „Die Auseinandersetzungen um Rachel Dolezal haben mich damals sehr direkt getroffen. Weil die Fragen, die ihr gestellt wurden – Wer bist du wirklich? Kannst du beweisen, wer du bist? – die selben Fragen waren, die mir ja mein Leben lang gestellt wurden. Und plötzlich waren sie dort draußen in der Welt und entzündeten sich an einem auf so vielen Ebenen komplexen Fall.“Sanyal wusste damals, dass sie darüber schreiben wollte. Das fiktionale Schreiben, die Romanform, bot ihr die Möglichkeit, das zu tun, ohne ein klares Urteil fällen zu müssen. So hatte sie die Möglichkeit, die vielen Seiten des Falls auszuleuchten und selbst zu erforschen und auch über Verletzungen und Tabubrüche zu schreiben, die sich um den Fall ranken. „Ich habe mich ganz bewusst entschieden, dass es bei mir nicht um ein Passing als Schwarze geht, sondern als POC, weil POC sein in Deutschland ganz anders verhandelt wird als in US-Amerika.“
Nach der Lektüre von „Identitti“ist eines auf jeden Fall klar: Man weiß jetzt mehr über POC sein. Vor allem aber über Nivedita sein, Saraswati sein, auch über Sarah Vera Thielmann sein … Es ist kompliziert. Und doch ganz einfach. Würde vielleicht Kali sagen, die Göttin mit der blauen Haut (auf dem Cover des Buchs, in einem Bild von Raja Ravi Varma aus dem Jahr 1906), und dem Rock aus Menschenarmen, die die Toten aufwecken kann und der Welt die knallrote Zunge entgegenstreckt.