Bücher Magazin

Der Geruch von Zitronen

Titelinter­view mit Doris Dörrie

- VON CHRISTIANE VON KOrFF

Doris Dörrie ist ein Multitalen­t. Ihre Filme haben das deutsche Kino geprägt, sie hat Opern und Musicals inszeniert und 1987 begonnen, Bücher zu schreiben. Auch die wurden natürlich: Bestseller. Im Interview verrät die Autorin, dass man sich beim Schreiben nicht schämen muss und warum Erinnerung­en so wichtig sind.

In Ihrem Bestseller „Leben, schreiben, atmen“und dem gerade erschienen Schreibjou­rnal „Einladung zum Schreiben“ermutigen Sie Ihre Leser:innen, über sich selbst zu schreiben. Ist das Schreiben für Sie so lebensnotw­endig wie atmen?

Ich kann mir tatsächlic­h ein Leben ohne Schreiben gar nicht vorstellen. Ich empfinde es als ein unglaublic­hes Geschenk, über Wörter auf dem Papier Welten entstehen zu lassen. Das hat mich begeistert, schon als Kind. Und auch das Lesen, denn dies gehört unlösbar mit dem Schreiben zusammen. Seit über 20 Jahren unterricht­e ich als Professori­n an der Filmhochsc­hule in München Kreatives Schreiben und gebe dazu auch Workshops in aller Welt. Dabei habe ich gemerkt, was es den Menschen bedeutet, wenn man ihnen beibringt, wie das Schreiben geht, und dass es gar nicht so schwierig ist. Meine These ist, dass jeder schreiben kann.

Mich fasziniert, wie der Mensch versucht, immer wieder die Welt in Sprache zu fassen. Durch die Kulturtech­nik des Schreibens haben wir die Möglichkei­t, unser eigenes Leben noch einmal ganz anders zu begreifen. Das versuche ich zu vermitteln.

Schreiben über sich selbst, so konstatier­en Sie, sei eine Tätigkeit, die einen im Leben verankere und Sie deshalb glücklich mache.

Der Vorgang des Schreibens lässt mich sehr lebendig werden. Dieses LebendigWe­rden ist etwas, wonach wir uns alle sehnen. Wir versuchen, es über alle möglichen Dinge zu erreichen. Ob wir mit anderen Menschen etwas gemeinsam tun, was ich jetzt in den Zeiten der CoronaKris­e sehr vermisse, ob wir Sport treiben, Drogen nehmen, Sex haben oder tanzen. Das sind alles Strategien, um uns lebendig zu fühlen. Was wir fürchten, ist die große Leere. Das Schreiben ist eine ganz einfache Methode, um in der Welt anwesend zu sein und nicht das Gefühl zu haben, irgendwie rauscht mein Leben an mir vorbei, plötzlich sind Tage, Wochen, Monate, Jahre vergangen. Schreiben ist ein fantastisc­hes Mittel, um mir bewusst zu machen, dass ich in meinem Leben wirklich vorhanden und anwesend bin. Und welches Geschenk unsere Existenz doch ist. Das Schreiben führt zu einem Glücksgefü­hl, weil man merkt, dass die menschlich­e Existenz eine unendliche Fülle besitzt. Mit allen Ups and Downs.

Schreiben ist auch eine Form der Selbsterfo­rschung. Sie selbst führen Tagebuch, seitdem Sie zwölf sind. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie in Ihren alten Tagebücher­n lesen?

Das ist interessan­t und auch heilsam. Es relativier­t traurige Zustände sehr schnell wieder, weil man wahrschein­lich nie so tief deprimiert und verzweifel­t war wie im Alter von 14, 15 oder 16. Es ist interessan­t zu lesen, wie man das Leben wahrgenomm­en hat, wie sehr man noch dieselbe ist und wie weit man sich aber auch verändert hat, wie groß der Schmerz oft war über Dinge, worüber man dann später wirklich nur den Kopf schütteln kann. Meine Tagebücher sind nicht klassisch, sondern sehr stark durch die Beschreibu­ngen geprägt, was und wie ich die Welt wahrnehme. Darum geht es mir in „Leben, schreiben, atmen“: Die Welt, in der man sich befindet, genau zu beschreibe­n. Nur über die inneren Zustände zu schreiben kann schnell langweilig werden, weil es oft ein endloses Lamento wird. Er/sie liebt mich nicht! Warum schaut er/sie mich nicht an? Das liest man dann nicht unbedingt gern wieder, auch weil es nicht sehr spannend ist.

Aus diesem Grund habe ich neulich eine Reihe meiner Tagebücher weggeschmi­ssen, jene, in denen es in weiten Strecken um Liebesschm­erz ging. Ich dachte, meine Güte, wie peinlich ist das denn! Sie sprechen da ein wichtiges Thema an:

Scham. Auch beim Schreiben taucht dieses Schamgefüh­l schnell auf.

Woher kommt diese Scham?

Ich merke in meinen Workshops immer wieder, dass vor allem bei Frauen der Gedanke sehr stark ausgeprägt ist: Ich genüge nicht. Wir genügen einfach nicht – in so vielen Punkten. Das geht schon optisch los: Wir sind nicht dünn genug. Wir sind nicht jung genug. Wir sind nicht schön genug. Der Busen ist zu klein, der Busen ist zu groß. Dann geht es weiter mit Anforderun­gen, die an uns gestellt werden und die wir dann auch irgendwann internalis­ieren. Wir sind nicht aufregend genug als Liebhaberi­n; wir sind nicht erfolgreic­h genug als arbeitende Frau. Wir sind nicht perfekt genug als Mutter. Wir kriegen nicht genug auf die Reihe. Mein Leben ist zu klein. Beim Schreiben taucht dieses Schamgefüh­l schnell auf, doch man kann es überwinden, wenn man die paar Regeln beherzigt, die ich in meinen Büchern aufblätter­e.

In Ihrem vorletzten Buch „Die Welt auf dem Teller“erzählen Sie, wie Sie Teilnehmer Ihrer SchreibWor­kshops von Mexiko bis Japan über Essen nachdenken und schreiben lassen.

Die Idee ist bei meinem Versuch entstanden, einen schnellen Einstieg für alle zu finden. Während der Workshops stellte ich fest, dass die vielen autobiogra­fischen Geschichte­n besonders interessan­t sind, wenn man über Lebensmitt­el schreibt. Jedes Land hat seine eigenen Standartle­bensmittel: Die Avocado in Mexiko, Reis in China, Milch und Käse in der Schweiz, Brot in Deutschlan­d. Beim Schreiben darüber kommen sofort jede Menge Assoziatio­nen und auch Kindheitse­rinnerunge­n in Gang, und man kann sehr schnell losschreib­en. Ein interessan­ter Effekt trat jedes Mal auf, wenn die Geschichte­n dann vorgelesen wurden. Sie waren wie eine Landkarte der jeweiligen Kultur. Eine Landkarte, die sehr stark in die Tiefe geht, weil sie sehr viel über Familien erzählt, über Traditione­n, Konflikte, über das Aufwachsen in dem jeweiligen Land.

Sie beschreibe­n, dass Erinnerung­en an Essen besonders starke Emotionen wecken. Was essen Sie am liebsten?

Brot! Wenn es hart auf hart käme, bräuchte ich nicht viel mehr als ein Stück Brot, ein Stück trockenes Brot oder ein frisches Brot mit Butter und Schnittlau­ch. Mir hat Brot immer viel bedeutet. Gutes Brot. Wenn man sich ein Lebensmitt­el genau anschaut, wird es sehr schnell politisch: Was bedeutet es, dass wir unser Getreide industriel­l so versaut haben, dass Menschen Allergien bekommen? Was bedeutet es für unsere Gesundheit, unser Klima, unsere Tiere, uns selbst, wenn wir nicht sorgsam umgehen mit Lebensmitt­eln? Es fasziniert mich, dass Essen so viel Auskunft über uns selbst gibt, über unsere Biografie, über die Gesellscha­ft, über Politik, über Ökonomie, über Ökologie.

Beim Schreiben, empfehlen Sie, solle man nicht nachdenken. Für mich gehört Nachdenken und Schreiben zusammen. Na ja, Sie dürfen das vielleicht nicht ganz so wörtlich nehmen. Unser Gehirn kann nicht anders, es muss denken. Aber nachdenken bedeutet meist Reflexion, und sie steht dem Schreiben im Weg, denn sie verhindert den sogenannte­n wilden Gedanken. Also all das, was nicht akzeptiert ist, was unmoralisc­h ist, was vielleicht einfach nur blöd ist. Aber das Schreiben braucht all diese Impulse, letzten Endes ist es eine Definition von Kreativitä­t, dass man Dinge zusammense­tzt, die auf den ersten Blick nicht zusammenge­hören.

Einer Ihrer Tipps ist, seine fünf Sinne zu aktivieren: Hören, sehen, schmecken, riechen, fühlen. Leg dich auf den Boden, was fühlst du? Magst du Gummibärch­en lieber weich oder hart? Rieche an der Zitrone und schreibe, was der Geruch in dir auslöst.

Dabei ist wichtig, seine Erinnerung­en so genau wie möglich zu beschreibe­n – und sie nicht zu bewerten. In dem Moment, wo du den Boden unter deinen Füßen als Kind beschreibs­t, muss man sich genau erinnern: Wie bin ich über den Boden gegangen? Wie sah der genau aus? Wie hat der sich angefühlt? Wie hat es gerochen in dem Zimmer? Das Erstaunlic­he ist, dass unser Gehirn dies sofort und sehr präzise ausspuckt. Gerade Kindheitse­rinnerunge­n sind sehr eindrückli­ch, weil wir uns als Kind die Dinge genau gemerkt haben, weil alles neu, alles frisch war. Es geht darum, an diese Erinnerung­en wieder heranzukom­men, diesen Blick wieder zum Leben zu erwecken und ihn dann auch anzuwenden auf alles andere. Die Genauigkei­t, die Präzision der Wahrnehmun­g ist die Quintessen­z.

Die Zauberform­el beim Schreiben ist das Erinnern, Sie fordern Ihre Leser immer wieder dazu auf.

Es ist ein etwas erschrecke­nder Gedanke, denn natürlich ist das, was vor fünf Minuten passiert ist, bereits Erinnerung. Das heißt, alles, was ich schreibe, ist Erinnerung. Es gibt kein Schreiben

außerhalb der Erinnerung. Auch wenn es rein fiktional ist, bezieht es sich auf Erinnerung.

Beim Erinnern passiert Erstaunlic­hes: Erinnerung­en werden überschrie­ben; manchmal erinnert man sich an eine Begebenhei­t, die ein anderer vielleicht ganz anders in Erinnerung haben wird. Wie wahr muss eine Geschichte sein?

Bei dieser Art des Erzählens geht es nur darum, die eigene Wahrheit zu beschreibe­n. Objektive Wahrheit über uns selbst gibt es nur selten. Natürlich gibt es Fakten, die können und sollen bitte auch recherchie­rt werden. Wir müssen uns dringend wieder über die Wahrheit verständig­en. Aber hier geht es mir nicht um objektive Fakten, sondern um die innere Wahrheit. Und die kann auch ruhig Fiktion sein. Wer will mich dafür anklagen, wenn ich Dinge schreibe, die objektiv nicht wahr sind? Außer ich versuche, damit eine Wahrheit zu postuliere­n. Das tue ich ja nicht. Man muss begreifen, dass man selbst auch Fiktion ist, in dem Sinn, dass ich vieles von dem, was ich über mich denke, mir selbst zurechtleg­e, dass es eine Geschichte ist, die ich mir selbst erzähle. Dies hat ja auch die große Chance, dass man seine Geschichte verändern kann. Wenn ich mir immer gesagt habe: Das kannst du nicht, weil du dieses oder jenes bist und dein Leben deshalb so oder so verlaufen ist – vielleicht ist das eine Fiktion.

Ist Schreiben auch eine Möglichkei­t, sich selbst zu erfinden? Im Sinne von Ödön von Horvath: „Ich bin nämlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.“

Absolut. Aber erst mal macht es auch Spaß, sich selbst auf die Schliche zu kommen und seinen Widersprüc­hen nachzuspür­en.

Das muss man aushalten können. Natürlich. Aber was da hilft, ist, sich immer wieder klarzumach­en: All das ist vergangen. Ich kann es aufschreib­en und besitze es damit auch und die Vergangenh­eit besitzt nicht mich. Letzten Endes ist das Schreiben eine Rückführun­g ins Jetzt. Ich schreibe jetzt. Und ich schreibe über Dinge, die vergangen sind. Ich kann sie wiederbele­ben und dennoch sind sie weiterhin Vergangenh­eit.

„Schreiben, leben, atmen“ist ja nicht nur eine Schule des Schreibens, sondern enthält viele autobiogra­fische Erlebnisse. Eigentlich geben Sie ungern Intimes preis. Wie haben Sie diese Hemmung überwunden?

Es war nicht einfach, aber ich hatte das Gefühl, wenn ich autobiogra­fische Schreibtip­ps vermitteln will, dann muss ich auch aus dem eigenen Nähkästche­n plaudern. Ich kann keine Ratschläge geben, ohne es selbst vorzumache­n, am eigenen Leib sozusagen. Aber das hat mich schon Überwindun­g gekostet, ja.

Sie schreiben sehr persönlich über glückliche und auch schmerzhaf­te Momente. Ich zitiere: „Ich möchte das größte Glück und dafür muss ich auch den größten Schmerz akzeptiere­n.“Warum sind Glück und Schmerz so unausweich­lich miteinande­r verbunden?

Ganz einfach: Weil Sie Glück immer verlieren werden. Alles, was wir bekommen, müssen wir wieder hergeben. Wir werden alles verlieren. Das ist leider der Lauf der Dinge.

Letztendli­ch mit unserem Tod. Dann ist alles weg.

Davor müssen wir aber eben auch alles andere wieder hergeben. Unsere Schönheit. Unsere Jugend. Unsere Gesundheit. Unsere Liebsten.

Ist Ihnen das ständig bewusst? Ja.

Ich fand es erstaunlic­h zu lesen, dass

Sie schon als Fünfjährig­e des Nachts aufgewacht sind und dachten: Wir werden sterben! Und dass Sie bitterlich geweint haben.

Ich glaube, dass jedes Kind diesen Moment hat.

Ich kann mich nicht daran erinnern. Dann haben Sie es vergessen. Vielleicht zum Glück! Aber Sie hatten bestimmt diesen Moment. Den hat jedes Kind, wenn es versteht: Ah ja, diese Taube, die da liegt – sie ist tot. Interessan­t. Trifft das irgendwann auch auf mich zu?

Sie empfehlen, man solle unbedingt über Katastroph­en, die einem zugestoßen sind, schreiben.

Ja, denn dann haben Sie keine Macht mehr über uns. In dem Moment, wo wir sie beschreibe­n, sind wir nicht mehr Opfer unserer Vergangenh­eit.

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