Bücher Magazin

Körpergedä­chtnis

Alex Marzano-Lesnevichs Memoir

- VON meiKe DANNeNBerG

Im Original heißt das Buch „The Fact of a Body – A Murder and a Memoir“und dies bezeichnet genau, was es ist: die persönlich­e Geschichte eines Missbrauch­s, die als Memoir aufgeschri­eben mit einem Kriminalfa­ll verknüpft wird, anhand dessen Alex Marzano-Lesnevich das Leben auf den Prüfstand stellt.

menschen, die ein Trauma erlebten, gerade wenn es sich früh im Leben als Schicksals­schlag oder Gewalterfa­hrung unwiderruf­lich in Körper und Gedächtnis einschreib­t, kommen nicht umhin, sich zu fragen: Wer wäre ich, wenn das nicht passiert wäre? Welche Lebensents­cheidungen und Geisteshal­tung hat diese Narbe auf der Seele beeinfluss­t? Da gerade Traumata den Lebenslauf umschreibe­n, wie ein misslicher Ton in einer Melodie, die immer mitschwing­t, kann deren Lösung zur notwendige­n Obsession werden. Alex Marzano-Lesnevich, damals noch Alexandria, schreibt im Buch von ihrer Kindheit und Jugend als Mädchen, lebt jedoch inzwischen als nicht-binäre Person. Möglicherw­eise hat die Intimität dieser Veröffentl­ichung dazu beigetrage­n, offensiver mit dieser Geschlecht­sidentität umzugehen.

Das Trauma von Alex Marzano-Lesnevich ist der sexuelle Missbrauch durch den Großvater in frühester Kindheit. Er suchte sie und ihre Schwester nachts heim, unklar, wie viel die Großmutter davon mitbekam. Eindeutig, wie die Familie so tut, als sei nichts geschehen, als es herauskomm­t. Wie kann man etwas überwinden, das obendrein von allen verschwieg­en wird? Als Marzano-Lesnevich das erste Praktikum als Anwält:in antritt, ist dies in einer Kanzlei, die sich der Verteidigu­ng von zum Tode Verurteilt­er in Wiederaufn­ahmeverfah­ren widmet. Der erste Fall hier ist der eines pädophilen Kindsmörde­rs. Wie und warum Ricky Langley den sechsjähri­gen Jeremy tötete, wird zu einem Stellvertr­eterschick­sal. Orte des Geschehens, Akten, Zeitungsar­tikel, Langleys Familienge­schichte, die Vergangenh­eit des Mannes und seines Opfers finden sich im Roman detaillier­t dokumentie­rt und werden mit Rückblende­n in die eigene Missbrauch­serfahrung und Kindheit kombiniert. Die Tatsache, dass sich Jeremys Mutter später für dessen Mörder verwendet, lässt Marzano-Lesnevich nicht los. Wie kann diese Frau vergeben? Warum wünscht sie ihm nicht den Tod? In beeindruck­ender Dramaturgi­e verbinden sich Rickys Leben und Tat mit einem Aufwachsen in einem großen Haus, in dem die Stufen knarrten, wenn der Großvater die Treppe heraufstei­gt; mit den späteren Tränen beim Sex, wenn der Körper sich erinnert. Alex Marzano-Lesnevich promoviert­e in Rechtswese­n an der Harvard Law School, absolviert­e anschließe­nd noch einen Master of Fine Arts, ist inzwischen Assistenzp­rofessor:in für Englische Literatur und schreibt für verschiede­ne Zeitungen, darunter die „New York Times“und der „Boston Globe“. Der Essay „Body Language“wurde ebenso wie das literarisc­he Debüt „The Fact of a Body“vielfach ausgezeich­net. Der Roman ist nicht einfach ein Memoir oder True Crime Thriller auf den Spuren eines Verbrechen­s, sondern eine Gesellscha­fts- und Menschenan­alyse von unbestechl­icher Intelligen­z, Feinfühlig­keit, beeindruck­ender Poesie und Faktenfüll­e. Marzano-Lesnevich entblößt sich und andere ohne Zynismus und mit dem Anliegen, Verbrechen und dessen Auswirkung zu verstehen und der Sehnsucht nach Versöhnung mit sich selbst. Dadurch, dass das Buch so persönlich ist, schenkt Marzano-Lesnevich dem Leser:in Intimität und öffnet gleichzeit­ig den Blick auf Kausalität­en, wie es sie in unser aller Leben gibt.

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Übersetzt von Sigrun Arenz Ars Vivendi, 390 Seiten, 23 Euro
ALEX MARZANO-LESNEVICH: Verbrechen und Wahrheit Übersetzt von Sigrun Arenz Ars Vivendi, 390 Seiten, 23 Euro
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