Körpergedächtnis
Alex Marzano-Lesnevichs Memoir
Im Original heißt das Buch „The Fact of a Body – A Murder and a Memoir“und dies bezeichnet genau, was es ist: die persönliche Geschichte eines Missbrauchs, die als Memoir aufgeschrieben mit einem Kriminalfall verknüpft wird, anhand dessen Alex Marzano-Lesnevich das Leben auf den Prüfstand stellt.
menschen, die ein Trauma erlebten, gerade wenn es sich früh im Leben als Schicksalsschlag oder Gewalterfahrung unwiderruflich in Körper und Gedächtnis einschreibt, kommen nicht umhin, sich zu fragen: Wer wäre ich, wenn das nicht passiert wäre? Welche Lebensentscheidungen und Geisteshaltung hat diese Narbe auf der Seele beeinflusst? Da gerade Traumata den Lebenslauf umschreiben, wie ein misslicher Ton in einer Melodie, die immer mitschwingt, kann deren Lösung zur notwendigen Obsession werden. Alex Marzano-Lesnevich, damals noch Alexandria, schreibt im Buch von ihrer Kindheit und Jugend als Mädchen, lebt jedoch inzwischen als nicht-binäre Person. Möglicherweise hat die Intimität dieser Veröffentlichung dazu beigetragen, offensiver mit dieser Geschlechtsidentität umzugehen.
Das Trauma von Alex Marzano-Lesnevich ist der sexuelle Missbrauch durch den Großvater in frühester Kindheit. Er suchte sie und ihre Schwester nachts heim, unklar, wie viel die Großmutter davon mitbekam. Eindeutig, wie die Familie so tut, als sei nichts geschehen, als es herauskommt. Wie kann man etwas überwinden, das obendrein von allen verschwiegen wird? Als Marzano-Lesnevich das erste Praktikum als Anwält:in antritt, ist dies in einer Kanzlei, die sich der Verteidigung von zum Tode Verurteilter in Wiederaufnahmeverfahren widmet. Der erste Fall hier ist der eines pädophilen Kindsmörders. Wie und warum Ricky Langley den sechsjährigen Jeremy tötete, wird zu einem Stellvertreterschicksal. Orte des Geschehens, Akten, Zeitungsartikel, Langleys Familiengeschichte, die Vergangenheit des Mannes und seines Opfers finden sich im Roman detailliert dokumentiert und werden mit Rückblenden in die eigene Missbrauchserfahrung und Kindheit kombiniert. Die Tatsache, dass sich Jeremys Mutter später für dessen Mörder verwendet, lässt Marzano-Lesnevich nicht los. Wie kann diese Frau vergeben? Warum wünscht sie ihm nicht den Tod? In beeindruckender Dramaturgie verbinden sich Rickys Leben und Tat mit einem Aufwachsen in einem großen Haus, in dem die Stufen knarrten, wenn der Großvater die Treppe heraufsteigt; mit den späteren Tränen beim Sex, wenn der Körper sich erinnert. Alex Marzano-Lesnevich promovierte in Rechtswesen an der Harvard Law School, absolvierte anschließend noch einen Master of Fine Arts, ist inzwischen Assistenzprofessor:in für Englische Literatur und schreibt für verschiedene Zeitungen, darunter die „New York Times“und der „Boston Globe“. Der Essay „Body Language“wurde ebenso wie das literarische Debüt „The Fact of a Body“vielfach ausgezeichnet. Der Roman ist nicht einfach ein Memoir oder True Crime Thriller auf den Spuren eines Verbrechens, sondern eine Gesellschafts- und Menschenanalyse von unbestechlicher Intelligenz, Feinfühligkeit, beeindruckender Poesie und Faktenfülle. Marzano-Lesnevich entblößt sich und andere ohne Zynismus und mit dem Anliegen, Verbrechen und dessen Auswirkung zu verstehen und der Sehnsucht nach Versöhnung mit sich selbst. Dadurch, dass das Buch so persönlich ist, schenkt Marzano-Lesnevich dem Leser:in Intimität und öffnet gleichzeitig den Blick auf Kausalitäten, wie es sie in unser aller Leben gibt.