Keine Schonung in Kunst und Leben
Interview mit Dagmar Manzel über Tove Ditlevsen
Dagmar Manzel liest Tove Ditlevsen – ein beglückendes Sprecherinnen-Autorinnenduo, wie sich beim Zuhören schnell herausstellt. Kein Wunder, dass die Hörbücher der „KopenhagenTrilogie“so gelungen sind, denn die vielseitige, mit vielen Preisen geehrte Schauspielerin konnte sich wochenlang in Ditlevsens Texte vertiefen.
Tove Ditlevsens „Kopenhagen-Trilogie“„Kindheit“, „Jugend“und „Abhängigkeit“wurde in Dänemark Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre veröffentlicht. Jetzt sind die autofiktionalen Romane auch auf Deutsch erschienen. „Kindheit“hat gleich die Bestsellerlisten erobert, die Bücher werden hier als literarische Entdeckung gefeiert. War es das auch für Sie?
Ich kannte die Schriftstellerin Tove Ditlevsen vorher nicht, aber mit Beginn des ersten Satzes aus „Kindheit“– „Am Morgen war die Hoffnung da.“– war ich wie gebannt und habe die drei Bücher verschlungen. Ich bin sehr froh darüber, dass endlich die deutsche Übersetzung da ist und ich die Hörbücher lesen konnte. Für mich ist sie eine große Entdeckung.
Was hat Sie an den Romanen so fasziniert? Radikal beutet Tove Ditlevsen ihr eigenes Leben beim Schreiben aus. Mit einer solchen Kraft und Klarheit, nach Liebe suchend, verarbeitet sie die seelischen Konflikte ihrer Kindheit, u. a. die Hassliebe zur Mutter. Ihr starker Wille, unbedingt Schreiben zu müssen, weist ihr den Weg zur Selbstbestimmung.
Es gab einen Bruch in ihrem Leben, ab dem Moment, als sie nach einer Abtreibung eine Spritze mit Pethidin bekommt, ein morphinähnliches Schmerzmittel. Sie ist sofort süchtig. Nur, um weiterhin Zugang zu diesem
Mittel zu bekommen, verlässt sie ihren Mann Ebbe, um den behandelnden Arzt Karl, zu heiraten. Sie begibt sich in ein totales Abhängigkeitsverhältnis, das sie fast umbringt.
Ja, beim Lesen ging mir das wirklich unter die Haut, mit welcher selbstzerstörerischen Kraft und sezierenden Genauigkeit sie diesen Prozess beschreibt.
Das ist Ihnen auch als Sprecherin gelungen. Ich bin Ihnen sehr gerne gefolgt, hatte immer das Gefühl, ganz dicht dran zu sein und doch war da genug Distanz. Raum für den Text, um sich zu entfalten.
Ja, da musste ich mich einarbeiten. Ohne Corona hätte ich mich wahrscheinlich nicht mit solcher Intensität und vor allen Dingen mit so viel Zeit damit auseinandersetzen können. Ich habe die Bücher mehrmals gelesen, ehe ich ins Studio gegangen bin. Mich so konzentriert mit der Trilogie von Tove Ditlevsen zu beschäftigen, hat mir gutgetan.
Das klingt, als ob Sie eine enge Beziehung zu Tove Ditlevsen entwickelt hätten. Und dann sind das ja auch noch autofiktionale Texte, beim Lesen ist einem bewusst: So ungefähr muss es tatsächlich passiert sein …
Ihre Texte sind beim Lesen manchmal schwer auszuhalten. Tove Ditlevsen hat das Leben nicht mehr ausgehalten und starb an einer Überdosis mit 59 Jahren.
Das hat mich erstaunt. Ich habe mich erst mit ihrer Biografie beschäftigt, nachdem ich die Hörbücher gehört hatte. Es war auch so viel Lebensfreude und Tatendrang in den Romanen.
Sie beschreibt die Menschen aus ihrem Leben auch mit Humor. Als kleines Mädchen, schon vieles durchschauend und nach einem ihrer ersten Klinikaufenthalte von ihrem behandelnden Arzt davor gewarnt, immer wieder abzustürzen, half ihr das Schreiben, ihr Leben zu ertragen.
Sie sprachen von viel Arbeit, haben den Roman neunmal gelesen. Worin bestand diese Arbeit noch?
Tove Ditlevsen beschreibt in der „Kopenhagen-Trilogie“40 Jahre ihres Lebens. Schon im ersten Teil „Kindheit“beginnt sie zu schreiben, aber in den 1920erJahren war es undenkbar, dass ein Mädchen aus dem Arbeitermilieu kommend, Schriftstellerin werden kann. Die junge Tove im zweiten Teil „Jugend“musste sich gegen vieles auflehnen und außer ihrem Bruder gab es niemanden, der sie bestärkt hat. Bis sie dann doch Unterstützung fand, zum Beispiel durch ihren ersten Mann. Im dritten Teil „Abhängigkeit“gibt sie sich fast auf und kann nur noch unter Drogen oder gar nicht mehr schreiben. Für diese drei großen Lebensabschnitte musste ich für jeden Teil einen eigenen Ton finden.
Wie ist es Ihnen gelungen, die nötige Distanz beim Lesen zu finden? Gerade, weil Sie sich so intensiv auf die Texte eingelassen haben?
Bei der ersten Lektüre hat mich die Sprache von Tove Ditlevsen, die als Schutz vor der Welt ihr die Kraft zur Selbstbestimmung gab, sehr bewegt. Nach mehrmaligem Lesen gelingt es dann, davon zurückzutreten und als Lesender diese Erfahrung dem Zuhörer zu überlassen.
Eigenes Leben und Kunst sind in Tove Ditlevsens autofiktionalem Schreiben vollkommen verschmolzen. Damit hat sie sich den Lesern total ausgeliefert. Können Sie das als Künstlerin nachempfinden?
Der Beruf des Schauspielers besteht ja auch darin, bereit zu sein, sich auszuliefern. Vielleicht fühle ich mich gerade deswegen von der radikalen Art, wie Tove Ditlevsen ihr Leben beschreibt, so angezogen. Diese Form des bedingungslosen Sich-nicht-schonen-Dürfens, um wahrhaftig zu sein, das ist ein Prozess, den ich als Schauspielerin auf der Bühne auch erlebe.