NEU: Kolumne „Unter die Haut“
Christiane von Korff berichtet in ihrer Kolumne von Büchern und Begegnungen, die sie bewegen.
„Das waren DIE DEUTSCHEN JUDEN, DIE DEUTSCHER ALS DIE DEUTSCHEN waren.“
Ich traf Andrea Sacerdoti bei Freunden auf Elba. Wir unterhielten uns angeregt, als er plötzlich sagte: „Wir können auch gern Deutsch sprechen.“Auf meine Frage, wo er die Sprache gelernt habe, erwiderte er nur: als Schüler in Mailand. Eine Woche später brachte er mir ein Buch vorbei. Auf dem Cover war das Schwarz-Weiß-Foto eines eleganten Paares zu sehen. Seine Eltern: Piero Sacerdoti und Ilse, geborene Klein.
Die Geschichte der Kölner Familie Klein, deren Ahnenreihe sich bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt, ist die typischer, assimilierter Juden. Die Emigration in die Niederlande brachte ihr keine Rettung. Nur Ilse überlebte die Nazizeit, sie emigrierte bereits 1933 nach Paris. Nach kurzer Internierung in das Lager Gurs gelang ihr mithilfe des Mailänders Piero Sacerdoti die Flucht nach Marseille. Die beiden heirateten, zogen nach der deutschen Besetzung Südfrankreichs nach Nizza, wo im März 1943 ihr Sohn Giorgio geboren wurde; den Sommer verbrachten sie in Norditalien, nach der deutschen Okkupation schafften sie die Flucht in die Schweiz. Mehr als 100 Briefe aus den Jahren 1938 bis 1945 sind der Kern des Buches, die Ilse 60 Jahre in einer Schachtel aufbewahrt hatte.
Ich las zwei Tage und drei Nächte lang. Und schrieb Andrea eine E-Mail: „Ich danke Dir für dieses berührende Buch, das Dein Bruder Giorgio herausgegeben hat. Schon der Titel: ‚Falls wir uns nicht wiedersehen …‘ ist so traurig. Weil es kein Wiedersehen gab. Ermordet in Auschwitz, Dein Großvater Siegmund und Dein Onkel Walter. Die Briefe Deiner Familie sind zutiefst bewegend, zumal wir heute wissen, was geschah, während Deine Mutter, als sie noch 1944 an ihren Vater und ihren Bruder schrieb, nicht wusste, was Auschwitz bedeutete.“Aus ihrem Schweizer Exil hatte Ilse Postkarten, Fotos und Päckchen geschickt, an das „ArbeitsLager Birkenau“, ihre Karten kamen postwendend zurück – abgestempelt mit Reichsadler und Hakenkreuz und dem Vermerk: „Das Lager verweigert die Annahme. Zurück an Absender“.
Andrea lud mich ein. Von der Terrasse der Villa Piero, die sein Vater 1965 als Sommerhaus auf Elba gebaut hatte, blickten wir auf eine malerische Bucht, wo seine Mutter oft mit ihren italienischen Freundinnen gesessen hatte. Sie wurde, erzählte er, immer la tedesca, die Deutsche, genannt. „Sie sprach Italienisch mit einem starken deutschen Akzent. Mit uns Kindern hat sie nie Deutsch gesprochen, aber von uns verlangt, die Sprache zu lernen. Wir bekamen Privatunterricht und besuchten Sommersprachkurse am Tegernsee.“
Kurz vor seiner Deportation schrieb Siegmund seiner Tochter: „Falls wir uns nicht wiedersehen, liebe Ilse, dann denke stets daran, dass Schillers ‚Ode‘ beginnt mit ‚An die Freude, schöner Götterfunken‘, aber schließt mit ‚Fester Mut in schweren Leiden!‘“
Andrea bewegt, dass sein Großvater Halt bei deutschen Klassikern suchte. Die große deutsche Kultur habe er nicht vergessen, auch nicht, als er im Zug nach Osten fuhr. Er sagt auf seiner Terrasse mit Blick über die Bucht: „Das waren die deutschen Juden, die deutscher als die Deutschen waren.“
Christiane von Korff ist Journalistin und Autorin.
Ihr Markenzeichen sind Gespräche mit Persönlichkeiten aus Kultur und Literatur.
Sie wünscht dem Buch von Giorgio Sacerdoti (Hrsg.) Falls wir uns nicht wiedersehen… Die Familie von Siegmund Klein zwischen Rettung und Tod – Briefe aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz und Italien (1938 bis 1945) eine
Neuauflage